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VM-Tourcheck BYD Atto 3: China-Kracher mit Golf-Tugenden

Bei einer ersten längeren Tour im Kompakt-E-SUV aus dem Reich der Mitte, das Vermieter Sixt jetzt groß einflottet, hinterlässt der Stromer einen soliden Eindruck, gefällt mit viel Platz und Komfort, brauchbarer Reichweite und fröhlichem Gemüt. Nur beim Schnellladen schwächelt er und bei ein paar Details. Sonst punktet er überall: Golf-mäßig.

In die Ferne schweifen: Dank guter Effizienz hält der Atto 3 sein Reichweitenversprechen weitgehend, Trips von München nach Tirol sind kein Problem. Nur Laden könnte er schneller. Dafür soll der Akku bei 88 kW Leistung länger leben. | Foto: J. Reichel
In die Ferne schweifen: Dank guter Effizienz hält der Atto 3 sein Reichweitenversprechen weitgehend, Trips von München nach Tirol sind kein Problem. Nur Laden könnte er schneller. Dafür soll der Akku bei 88 kW Leistung länger leben. | Foto: J. Reichel
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Johannes Reichel

Man muss es den Ingenieuren von BYD lassen: Was sich der Hersteller im Laufe der Zeit aus dem Nukleus der Akkutechnologie, über Stapler und Busse an Fahrzeugkompetenz angeeignet hat und im Atto 3 und weiteren E-Pkw wie dem Tang und dem Han kulminiert, hat hohes Niveau. So hinterließ der Strom-SUV, der mit 4,45 Meter Länge so grade noch stadttauglich ist und den wir mit fabrikneuen 40 Kilometer übernahmen, einen soliden und vor allem fröhlichen und keinesfalls spröden Eindruck.

Der Atto 3 bietet vier Passagieren inklusive Skiausrüstung locker Platz, der topfebene Boden im Fond böte sogar noch Raum für einen fünften Passagier. Doch was ist das? Keine Luke als Durchreiche für die Ski? Mühselig muss man die Bretter über die Rücksitzlehne hieven und auf der Mittelarmlehne betten, die man vorsorglich mit einem Handtuch puffert, um die durchaus ansehnlichen und wertigen Materialien des generell sehr lebensfroh in taubenblau und sandfarben poppig gestalteten Innenraums zu schonen.

Großer Kofferraum, viel Beinfreiheit

Schade, denn der gut beladbare Kofferraum selbst hat gut Platz (440 Liter), unter dem zweiten Boden, ist sogar noch eine Kuhle für kleinere Utensilien im zweiten „Untergeschoss“. Dass man bei der Topversion, der sowieso nur zwei, grundsätzlich ziemlich gut ausgestatteten Varianten, auf eine elektrisch betätigte Heckklappe setzt, ist ein lässlicher Luxus, der spätestens dann nervt, wenn auch nur der Zipfel eines Rucksacks in den Spalt ragt und die Klappe die Schließung verweigert. Außerdem kann das alles nur kaputtgehen.

In Reihe Zwei lümmeln die langbeinigen Heranwachsenden dann lässig auf dem gut gepolsterten Gestühl, auch vorn ist man auf Langstrecken gut „gebettet“. Lediglich im Kopfbereich des von hinten ziemlich „blickdichten“ Integralsitzes fällt auf, dass die Polsterung sehr dünn ist. Man erfreut sich an der guten Aussicht durch das gigantische Panoramaglasdach, das sich erfreulicherweise sogar öffnen und per Rollo verschatten lässt, für leichte Cabriogefühle.

Unterhaltsamer Typ: Andere Saiten aufgezogen

Zur Unterhaltung fährt der BYD mit den Gitarrensaiten-verzierten Fächern auf, die prompt jeden Passagier zum Spielen animieren. Passend dazu: Eine ordentlich klingende Soundanlage, bei der allerdings der DAB-Empfang ziemlich lausig ist. Musikalisch lässt der Atto die Passanten ohnehin aufhorchen, auch wenn der „Klassiksound“ als Langsamfahrgeräusch auf Dauer eher betäubend wirkt. Man kann ihn ja zugunsten eines „normalen“ Fahrgeräuschs abstellen. Das Blinkergeräusch ist uns dagegen etwas zu „aufgeregt“. Praktisch: Stautaschen für Kleinkram in den Rückenlehnen. Einen Frunk sucht man vorn allerdings vergebens, obwohl durchaus noch Platz wäre, unter der Haube des mit Frontmotor und Frontantrieb „klassisch“ gelayouteten China-Stromers.  

Wenn die Luft wegbleibt: Die Lüftung wirkt nicht ganz feuchtefest

Im nächtlichen Wintereinsatz zeigen sich die Scheinwerfer zwar äußerst leuchtstark, inklusive Fernlichtautomatik, die Lüftung aber nicht immer „stilsicher“. Bei unter Null Grad Außentemperatur ist auf einmal der Blick ziemlich weg, die Feuchtigkeit setzt sich an den Fenstern rundum fest. Mühsam muss man die Scheiben wieder freiblasen, die Klimaanlage aktivieren. Wie überhaupt das Gefrickel im Menü des riesigen Screens im Vergleich zu schlichten Drehreglern nervt und ablenkt.

Das teilt der BYD aber mit vielen anderen "modernen" Fahrzeugen. Warum man überhaupt einen TV-formatigen Schirm braucht, leuchtet auch nicht ganz ein, die Symbole sind so Riesengroß dargestellt, dass es wirkt, als sei das alles für Sehbehinderte gemacht. Wichtiger wäre, dass es außer Englisch, Spanisch, Norwegisch und Chinesisch auch eine deutsche Spracheinstellung gäbe. Nicht zuletzt deshalb scheitert die Sprachassistenz, die sofort beim Wort „BYD“ anspringt, schon an Begriffen wie Heiterwanger Straße. 

Quer auf längs? Wieder ein Motor, der nur kaputtgehen kann

Sinnbefreit auch die verspielte Option, den Schirm von quer auf längs zu drehen, wieder ein Motor, der kaputtgehen kann. Während unserer Viertagestour lagen auch gleich mal zwei Over-the-Air-Updates an, die den Nachteil haben, für zwanzig Minuten das Fahrzeug stillzulegen – und unzugänglich zu machen, wie wir feststellen mussten, als wir noch eine Parkscheibe platzieren wollten. Kein Reinkommen. Dafür punktet der kleine Digitaltacho mit knackscharfer Darstellung all dessen, was man wirklich braucht zum Fahren, bis auf eine zweite Ebene zum Verbrauch statt der etwas nichtssagenden "letzten 50 Kilometer“.  

Komfortabel und bequem, aber nicht unbedingt agil

Das Fahren selbst beherrscht der BYD, um zum Wesentlichen zu kommen, nicht schlecht. Im Menü entdeckt man den Lenk- und Fahrwerksmodus „Sport“, der den E-SUV auch nicht zum Sportwagen macht, aber etwas mehr Präzision bietet. Grundsätzlich ist der Atto aber ein braver Stromer, der berechenbar liegt und sich sanft fahren lässt. Wer zu viel „Strom“ gibt und mit dem für einen Vollformat-BEV im Volvo XC40-Maß vergleichsweise leichten 1,8-Tonner die 7,3 Sekunden auf 100 km/h partout erreichen will, wird von scharrenden Vorderrädern und dem ESP eingebremst.

Mit niedrigen Wind-, Motor- und Fahrgeräuschen absolviert man ohne größere Agilitätsambitionen die Strecke komfortbetont, das Fahrwerk ist brav und tadellos abgestimmt. Vor allem wirkt die Karosserie bocksteif, das Konstrukt ist knisterfrei verarbeitet, die Türen fallen Satt ins Schloss. Respekt! Dass es keinen echten „One-Pedal-Drive“ gibt, ist ein kleinerer Fauxpas, auch eine Verstellung der Rekuperation haben wir trotz intensiver Suche in allen Menüs nicht entdecken können.

Ordentliche Fahrerassistenz

Dafür machen die Fahrerassistenten einen recht fitten Eindruck, der Abstandstempomat hält sanft Distanz, der Spurhalter warnt nach Gusto akustisch oder per Vibration und hält aktiv und nicht zu eckig auf Kurs, der Totwinkelwarner merkt per Diode im Spiegel auf. Rechtzeitig ergeht eine Ermahnung, wenn der Fahrer die Hände zu lange vom übrigens schön griffig und ergonomisch tadellosen Lenkrad lässt. Ob man die trendige 360-Grad-Vogelperspektive auf dem „Fat Screen“ braucht, sei dahingestellt, wir kamen auch mit den guten Rückspiegeln problemlos klar.

Gut motorsisiert, flott in Fahrt

Mit 150 kW Leistung und 310 Nm Drehmoment ist der Atto gut, aber nicht übermäßig üppig motorisiert, Spurtorgien sind seine Sache nicht, der Unterschied zwischen „Sport“ und „Standard“ ist irgendwie kaum spürbar. Letztlich ist das aber im Alltag auch ziemlich egal, der Atto kommt flott genug aus den Blöcken und auf Tempo. Lässt man es bei 120 km/h auf der Autobahn bewenden, rollten wir mit 19,3 kWh/100 km nach Bordcomputer über von München nach Tirol bis auf 1.300 Meter und retour, wo wir die hinwärts gesammelten „Höhenmeter“ bei 22 kWh/100 km mit einem „Spatzendurst“ von 16,5 kWh/100 km retourniert bekamen.

Die Reichweite dürfte im Sommer realistisch sein

Das sind alles keine Sensationswerte, aber mit Ganzjahresbereifung und für Winter ordentliche Werte. Unter sommerlichen Bedingungen sollten 400 Kilometer Reichweite also kein Problem sein, was den Atto zum langstreckentauglichen Reisewagen adelt. Wohlgemerkt: Mit einem nur 60 kWh großen LFP-Akku aus dem eigenen Haus. Weiter kommt ein kürzlich getesteter Skoda Enyaq Coupe RS i.V mit seinem 80 kWh-Lithium-Ionen-Speicher auch nicht, im Gegenteil. Ohne entscheidend mehr Platz zu bieten, ist der VW-MEB-Stromer mit seinen knapp 2,3 Tonnen Leergewicht - eine halbe Tonne mehr als der Atto - das deutlich ineffizientere Paket. Viel teurer ist er sowieso: Ab 63.000 Euro geht's hier erst los, nur um mal die Relationen klar zu machen. 

Kernkompetenz Akku: Auch bei Kälte geht nichts stiften

Vor allem zeigt sich der Hersteller in seiner Kernkompetenz Akku auf der Höhe der Zeit, der Atto verliert auch nach eiskalten Nächten keine Kapazität und zählt exakt und präzise runter, bis wir bei 7 Prozent Rest und knapp 40 Kilometern wieder in München an der Sixt-Station anschlagen. Zwischendurch testeten wir noch die Schnellladefähigkeiten an einem Alpitronic-Hypercharger an der BP-Station in Heiterwang, so „hyper“ lädt der Atto allerdings bei moderaten 7 Grad Außentemperatur aber nicht: Anfangs 44, maximal 62 kW lagen an, für die 21 kWh hingen wir 25 Minuten am Strom, von 33 auf 60 Prozent SOC.

Schnellladen hatte keine Priorität, Langlebigkeit eher

Der Ladestutzen sitzt übrigens beifahrerseitig vorn am Kotflügel, was immerhin die „Kollisionsgefahr“ beim Straßenrandladen bannt, am DC-Lader aber leicht erschwertes Handling mit dem Kabel beschert. Schnellladen, das können vor allem die 800-Volt-Koreaner, aber auch die schwedisch-chinesischen Volvo-Geely-Fahrzeuge oder ein ID.4 definitiv besser, mit denen der Atto sich messen muss, aber auch kann. Aber vielleicht zahlt der Atto-Akku einem das ja durch die den LFP-Batterien nachgesagte größere Langlebigkeit zurück. Nachhaltiger ist er sowieso, weil er ohne seltene Erden wie Nickel und Kobalt auskommt.

Alltagstaugliches und gelungenes Package

So bleibt unterm Strich der Eindruck eines „soliden“ Packages, das in Summe durchaus Fahrspaß macht, alle Anwendungen des Alltags abdeckt und ordentlich Reichweite, Effizienz und Komfort bietet. Dazu ein spaßiges Innendesign und gefälliges, nicht zu exaltiertes, unaufgeregtes Außendesign, das einigermaßen zeitlos sein dürfte. Glanzlichter setzt der Atto nicht, auch software-seitig bleibt einiges zu tun und wirkt überambitioniert. Aber er punktet bei der Hardware, der Fahrerassistenz und in mithin allen Kapiteln und leistet sich keine gravierenden Schwächen, bis auf das eher träge, aber sicher akkudienliche Ladeverhalten vielleicht. Golf-Tugenden möchte man fast sagen. Und kein Wunder, dass sich der Atto als Yuan Plus prompt auf Platz vier der chinesischen E-Auto-Charts vorschob, mit 150.000 verkauften Exemplaren. Die Ingenieure aus dem Reich der Mitte haben offenbar genau Maß genommen in Wolfsburg.

Für Vollausstattung sind 42.000 Euro günstig - die Miete sowieso

Nicht allerdings beim Preis: 42.000 Euro für das generell und nach BYD-Philosphie vollausgestattete Modell Active, sind ein Wort. Ab 399 Euro (48 Mon./10.000 km jährlich, 4.500 Euro Anzahlung) startet das Werksleasing der Hedin Electric Mobility GmbH, die die Importe nach Deutschland von Schweden aus abwickelt. BYD nehme sich Zeit, um in Deutschland wettbewerbsfähig zu werden, zitiert die New York Times den Chef der Hedin Mobility Group, Jan Grindemann. Naja, so geduldig sind die Chinesen dann auch wieder nicht: Schon kursieren Gerüchte über ein BYD-Montagewerk in Deutschland.  

Sixt setzt auf BYD: Günstig in Miete und Abo

Bei Eigenschaften und Preis kein Wunder also, dass der einstige Elektro-Skeptiker, aber kühl kalkulierende Unternehmer Sixt den Atto gerne und in großer Stückzahl einflottet - bis 2028 will man BYD 100.000 Autos abnehmen - und seinen Fuhrpark damit breiter elektrifiziert, auch im flexiblen "Atto-Abo" ab 649 Euro/mtl., übrigens. Wir bezahlten für einen Viertages-Faschings-Trip inklusive Schlussladung zu pauschal 24 Euro dann 220 Euro Mietgebühr, bei 950 Euro Selbstbeteiligung und 1.000 Freikilometern. Die Zwischenladung bezahlten wir mit 13,50 Euro für 21 kWh nach EnBW-Tarif selbst. Da kann man nicht meckern, zumal der Atto kaum mehr kostet als der günstigste Sixt-Wagen in der Zeit, ein Fiat 500 Verbrenner ...

Wenn die Sixtianer jetzt noch wie bei ihrem E-Carsharing eine Ladekarte oder App-Anbindung implementieren, wird das BEV-Miet-Paket noch runder. In jedem Fall sollten sich die deutschen Hersteller, die in China bei E-Autos aktuell keinen Reifen auf den Boden bekommen, auch hierzulande "warm anziehen".

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