VM-Test Canyon Precede:ON AL7: Koblenzer Allzweckmittel für Pendeln und Alltag
Pedelecs besitzen gewaltiges Potenzial als Pendler-Gefährte und Auto-Ersatz. Das sagen nicht nur die einschlägigen Umwelt- und Branchenverbände, sondern auch der ADAC. "Neben den normalen E-Bikes bieten vor allem S-Pedelecs das Potenzial, alltägliche Pendlerstrecken bis zu 20 Kilometer ohne übermäßige körperliche Anstrengung mit dem Fahrrad anstatt mit dem Auto oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zu absolvieren". Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer, dass die angesprochenen S-Pedelecs leider vom Gesetzgeber künstlich ausgebremst werden durch überbordende Regularien wie Führerschein- und Helmpflicht sowie Rad- und Feldwegverbot. Anhänger darf auch nicht dran. Aber es muss nicht immer S-Pedelec sein, ein flottes Normal-Pedelec tut es häufig auch. Doch nicht alle taugen auch für weitere Distanzen jenseits der 15 Kilometer - oder wenn es eben mal flotter gehen soll. Insofern ist das mit 3.500 Euro für das Gebotene durchaus fair gepreiste Canyon Precede:ON AL7 mit der hauseigenen Rubrizierung als "City-Bike" nicht hinreichend klassifiziert. Man kann auch von "rheinischem Understatement" sprechen.
Einiges auf dem Kasten: Wuchtiger Alu-Rahmen als Basis
Denn es kann viel mehr als das: Auf Basis eines wuchtig-kantig-imposanten Alu-Rahmens (es gibt auch eine Karbonversion), der aber ein wie von den Koblenzern gewohnt zeitlos technoides Design nebst robuster Pulverlackierung besitzt und mit einer stufenlos geschmeidigen Enviolo-Twist-Pro-Nabe, einem völlig ausreichend kräftigen Bosch Performance-Line-Mittelmotor (65 Nm), wartungsarmen Gates-Riemen-Führung, dazu fetter Schwalbe-G-One-Alltround-Besohlung im MTB-Format sowie burgsoliden Schutzblechen, Gepäckträger und gleißend hellem Supernova-Licht kombiniert wird, realisierten die Koblenzer die "ultmative Allzweckwaffe" für den modernen Pedalisten, die eigentlich fast alle Spielarten von Stadt, Umland oder Ausflüge beherrscht - außer vielleicht die Mitnahme in der Bahn. Denn mit 25 Kilo "Lebendgewicht" ist der Alu-Bolide so schwer, dass man ihn nicht über Treppen oder in Zug wuchten will. Wichtig ist auch ein ebenerdiger und sicherer Abstellplatz, im Büro wie zuhause. Immerhin ist der nahtlos ins Design integrierte Bosch-PowerTube Akku über das Rahmenfach per Schlüssel schnell entriegelt und entnommen, das Laden dauert dann aber schon mal eine Arbeitsschicht lang. Wahlweise kann man aber auch am Tretlager einstecken.
Länge läuft, Gewicht auch: Hoher Komfort dank dicker Pneus
Bei der Rahmengröße M, die bei 1,82 Meter Länge noch wie angegossen passt, ist ein 500 Wh großer Akku verbaut, die L und XL-Versionen verfügen dann über die 625er-Kapazität. Die hätte unser "Heavy Commuter" Oliver Dorsch, der mehrmals die Woche von Bad Wörrishofen bis in den Verlag im Münchner Norden pendelt, gelegentlich schon gebrauchen können. Bei Gegenwind, Regen oder in bergigem Terrain, wenn man die volle Tretunterstützung abfordert, kann es schon mal knapp werden. Wobei ein großer Vorteil des Canyon ist: Es läuft auch ohne Akku ziemlich gut, brockt einem auch jenseits der 25 km/h keine größeren Antriebs- oder Rollwiderstände ein, lässt sich so problemlos in der Ebene mit 30 km/h bewegen und saust bergab ruhig mit 50 Sachen ins Tal, ohne zu scheuen. Zudem bügelt es mit seinem Gewicht und den fetten Pneus viel Unbill der Straße nieder, liegt stoisch und ruhig auf der Piste. Nur ohne Unterstützung steiler bergauf, das ist was für echte Trainingsfreaks und Hartgesottene ...
Auch Feld-, Wald-, oder Forstwege gehen gut. Städtisches Kopfsteinpflaster mag das Alu-Precedes dagegen nicht: Da schüttelt es einen mit der Alu-Starrgabel ganz schön durch und man merkt, dass es sich nicht um die 1.500 Euro teurere Carbon-Variante (zusätzlich mit Bosch CX-Antrieb, 85 Nm und komplexerem Vorbau) handelt. In Anbetracht des Gewichts werden auch die Magura MT30-Scheibenbremsen ordentlich beansprucht - sie packen im Neuzustand allerdings weniger spontan und giftig zu wie Shimano-XT-Stopper. Das Handling des Bikes, vom Charakter eher SUV als Sportwagen, ist jetzt nicht übermäßig flink, aber der Gewichtsklasse durchaus angemessen agil, verlässlich und sicher - man fühlt sich in der universellen Sitzposition zwischen aufrecht und sportlich sofort wohl und wie "eins" mit dem Gefährt(en) vom Rhein.
Qualitäten als Lastesel
Seine große Stunde schlägt auch, wenn das Pendler-Rad mit Aktentasche zum Lastesel mit Einkaufstasche mutiert: Ab Werk gibt es solide Alu-Körbe (1,2 kg) mit je 7,5 Kilo Belastbarkeit, die ratz-fatz eingeklinkt sind. Auch die Ortlieb-Taschen mit QL.3.1-Arretierungen sind schnell fixiert, Standardtaschen dagegen nur, wenn man die Ösen an die dicken Rohre des formschönen Gepäckträgers anpasst. Problemlos kann man sich einen Trailer am Precede vorstellen, ob für Kind oder Kegel.
Was unserem "Heavy Commuter" Oli Dorsch noch auffiel:
- Erste kleine Steigung am Petueltunnel: Da merkt man sofort das hohe Radgewicht. Nach Aubing dann freies Feld und Rückenwind. Mit Schwung über die A99-Brücke (wieder das Gewicht sakrisch gemerkt). Aber dann kurz bergab, neben der B2 nach Germering. Tempo 28 – 30 war drin. Vor Inning bergab, Tempo 45.
- Dann schon mit Licht (richtig gut, mit Fernlicht so hell wie ein Autoscheinwerfer) am Ammersee vorbei nach Eching. Bis hierher sind es ca. 45 Kilometer. Diese Strecke bin ich ohne Motor gefahren. Mühsam, aber machbar.
- Die stufenlose Nabe macht sich ganz gut. Man ist aber immer ein bisschen mit der Feinjustierung beschäftigt. Öfter mal bis zum Anschlag der höchsten Stufe gedreht und dann immer "a Ruckerle" zum aktuellen Ideal hin. Gewöhnungsbedürftig, aber dafür hat die Nabe ja andere Vorzüge, wie der Riemenantrieb ja auch.
- Ab Eching am Ammersee habe ich den Motor eingeschaltet. Zuerst mal mit „Eco“ probiert. Weiter Richtung Greifenberg geht’s dann auch wieder etwas bergauf. Da war ich dann froh über die Unterstützung am Berg(chen). Bei Windach kommt dann noch die stärkste Steigung der ganzen Strecke. Da bin ich dann gut mit „Sport“ und 26 km/h drüber gekommen.
- Mit Kettenschaltung (XT 12-fach, 2.990,-) fährt sich das Rad vielleicht eine Idee spritziger. Einsatzzweck ist aber immer vorrangig die (Groß)-Stadt und kleinere Touren in der City oder ins Umland mit längeren Waldpassagen etc. Auf Wald- und Wiesenwegen lässt es sich sehr gut fahren und rollen. Durch die breiten Reifen vermisst man eine Federgabel eigentlich nicht. Es fährt sich äußerst gutmütig. Auch bergab mit höherem Tempo wirkt es nie flatterhaft.
- Für längere, sportliche Touren auf Asphalt ist es eher nicht gemacht. Ich habe sie aber trotzdem unternommen, auch Richtung Berge (Marktoberdorf, Füssen, Auerberg) wo es ständig rauf und runter geht.
- Bergauf und gegen den Wind hat das Rad mit Motor seine großen Vorzüge. Gerade auch bei dem argen Ostwind der ersten Frühjahrstage. Auf dem Rückweg war ich dann schon immer froh, den Motor stärker zuschalten zu können.
- Man lernt auch mit der Akkukapazität umzugehen: 100 km waren zuletzt auch in bergigem Terrain möglich. Nach 105 km hatte ich noch einen „Balken“. Kälte setzt dem Akku aber wie bekannt zu. Dies muss man einkalkulieren.
- Ein Anfängerfehler war, ganz ohne Motorunterstützung zu fahren. Lieber zwischen Eco und Tour switchen, da macht man sich dann nicht unnötig kaputt. Sport- und Turbo-Modus sind für die Beschleunigung ganz nett.
- In der Ebene und bei leichtem oder gar keinem Wind rollt das Rad erstaunlich gut. Ich habe das Bike schon mit dem Sühle vom FCB verglichen – man sieht ihm nicht an, dass es schnell ist.
- Für den empfohlenen Einsatzzweck ist es ein tolles Rad. Riemenantrieb und die damit unbedingt erforderliche Nabenschaltung sind ein Plus (vor allem die stufenlose enviolo) und bei Canyon nicht mal arg teuer. Kein Öl und lange haltbar. In dieser Version äußerst wartungsfreundlich.
- Details: Die Klingel ist in München vielleicht zu leise. Ein fest verbautes Schloss am Rahmen wäre nicht schlecht (spontane Einkäufe etc). An die Drehrichtung der Schaltung muss man sich als Shimano-User erst mal gewöhnen – genau anders herum.
- Fazit Fernpendler Dorsch: Zum Fernpendeln ist das Rad eigentlich ja weniger geeignet. Es geht aber trotzdem. Wenn ich es sehr drauf anlege, bin ich zwar mit meinem mehr als 30 Jahre alten 26 Zoll MTB genauso schnell, aber ungleich "platter". Bei höherem Tempo bremst einen das Canyon etwas aus. Über 30 wird’s auf Dauer anstrengend und ungemütlich. Für meine echte Fernpendelei wäre ein S-Pedelec wahrscheinlich die bessere Wahl. Aber das hat dann wieder andere Nachteile, außer dass der Akku wohl knapp wird. Wenn man damit nicht mal Feld- oder Radwege fahren darf, ist das keine Alternative.
- Fazit Nahpendler Reichel: Letztlich fahre ich lieber mit meinem unter zehn Kilo schweren Gravel-Bike die 15 Kilometer von München-Süd nach Nord. Das ist wendiger, sportlicher, unterm Strich (mindestens) genauso schnell. Dennoch erschließen sich die Qualitäten eines Pedelecs wie des Precede als Pendler-Alternative sofort: Robust, wartungsarm, komfortabel, recht schnell und im Alltag erstaunlich universell. Und es ist halt nicht jeder ein Ganzjahres-Radler mit hoher Resilienz und starkem Bewegungsdrang. Dafür ist das Canyon ein toller und verlässlicher Gefährt(e), der den Geldbeutel schont und mit durchdachten Extras zum kleinen Cargobike mutiert. Erst recht, wenn man dafür das Auto stehen lässt - oder gleich ganz abschafft. Man braucht es schlicht nicht mehr.
PLUS:
- Fairer Preis für das technische Niveau
- Akku entnehmbar
- Wartungsarm dank enviolo-Nabenschaltung und Riemenantrieb
- Stufenlose Schaltung mit breitem Übersetzungsspektrum
- Robust
- Komplett STVO
- Aufrechte Sitzposition
- Sehr gutes Licht mit Fernlichtfunktion
- Auch ohne Motorunterstützung gut zu fahren
- Robuste Schutzbleche und Gepäckträger
- Ergo-Griffe, guter Sattel
- Motor leise
MINUS:
- Üppiges Gewicht
- Für Fernpendler eher nicht geeignet
- Drehgriffschaltung nicht für jeden passend
- Magnetischer Lichtknopf mit Kabel fällt schon mal raus
- Nur 500 Wh Akku bei M-Rahmen
- An der Akkuaufnahme kann Wasser eindringen - wobei der Hersteller versichert, das sei unbedenklich, weil es auch wieder abläuft
- Gepäckträger nicht für Standardgepäcktaschen, wegen zu dicker Rohre
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