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VM-Fahrbericht Nio ET5: Teurer Design-Stromer mit Sensor-Tücken

Hochambitioniert startet auch das dritte und zugleich Einstiegsmodell der globalen Chinesen. Stilistisch kann man dem 4,80-Meter-Stromer nicht viel vorwerfen. In Sachen Raumeffizienz, Praktikabilität und Fahrassistenz dagegen schon. Und der Preis ist so selbstbewusst wie der Anspruch.

High-End-Stromer mit blinden Flecken: Die Sensor-Armada im Nio ET5 ist durchaus noch lern- und ausbaufähig, wie eine erste Testfahrt ergab. | Foto: J. Reichel
High-End-Stromer mit blinden Flecken: Die Sensor-Armada im Nio ET5 ist durchaus noch lern- und ausbaufähig, wie eine erste Testfahrt ergab. | Foto: J. Reichel
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Johannes Reichel

Das Nio-Marketing haut die Superlative nur so raus: NIO Adam Super Computing und NIO Aquila Super Sensing, 33 Sensoren sind im Mittelklasse-Stromer ET5 wie in seinen größeren Brüdern verbaut, darunter 500-Meter-Langstrecken-Lidar und gleich zwei Kameras im sogenannten "Watchtower" oberhalb der Windschutzscheibe, an den man sich hierzulande im Zuge des automatisierten Fahrens noch gewöhnen sollte, wie der Verantwortliche empfiehlt; dazu kommen fünf Millimeterwellen-Radare und zwölf Mal Ultraschallsensor; nicht zu vergessen sieben lichtstarke 8-Megapixel-Kameras mit Sony-Chip für die 360-Grad-Kamera; dazu garniert als Hardware eine vierfache NVDIA-Plattform, mit soviel Rechenpower wie 100 Playstation5 - formal bleibt da kein Techie-Auge trocken.

Im Alltag aber eben doch manchmal ganz schön blind. Zumindest deutet der Rechner am Straßenrand stehende Fahrzeuge öfter mal als frontales Hindernis und bremst rüde an. Kurven oder Ampeln im Voraus erkennen all die Sensoren auch nicht, mit Schwung geht es voll drauf zu, man sollte sich dessen Gewahr sein. Gut, wenn keiner hinter einem fährt, was zu ergründen durch den superschmalen Sehschlitz namens Heckscheibe nicht allzu leicht fällt.

Ruppige Spurassistenz

Auch die Spurassistenz wirkt nicht ganz stilsicher, agiert eher ruckelig, schneidet die Radien grob und gemahnt schnell, doch die Hände am Lenkrad zu lassen: "Andernfalls wird der Auto-Modus deaktiviert", warn die Assistentin vornehm. Dazu ertönen permanent Hinweise, wenn das Tempo auch nur leicht überschritten wird. Immerhin: Deaktivierbar, das. Auf der Autobahn pendelt sich das Ganze einigermaßen ein, aber innerorts schaltet man den "Kollegen Computer" irgendwann einfach ab, weil das sonst eigentlich so schöne und komfortable Fahrerlebnis zu arg getrübt würde. Aber die China-Marke lernt ja schnell dazu ...

Premium-Anspruch: Selbstbewusste Preisgestaltung

Alleinstellung Nummer 1 wäre damit schon mal einigermaßen dahin und man wirft einen Blick in die Preisliste, die bei 39.900 Euro Netto startet. Ohne Akku, wohlgemerkt. Käuflich erworben kommen mit 75-kW-Speicher dann noch 12.000 Euro dazu, mit 100 kWh-Akku sogar 21.000 Euro. Ganz schön selbstbewusst, wenn man sieht das man für den Basispreis auch ein Tesla Model 3 bekommt - inklusive Akku, selbstverständlich. Und: Wer den Akku kauft, der kann nicht swappen, rät der Verantwortliche subcutan von dieser urdeutschen Variante der Fahrzeugbeschaffung ab.

Auch die Aboraten von 978 Euro bei drei Jahren Bindung bis 1.238 Euro bei einem Monat und voller Flexibilität, jeweils mit für ein Langstreckenmobil eher mauen 1.250 Inklusiv-Kilometer (zusätzliche Kilometer 0,22 ct/km!) zeugen von großem Selbstbewusstsein. Immerhin: Mit einem Start-Spezial samt Nomi Halo und elektrisch ausfahrender Anhängekupplung (1,4 to Anhängelast!) drückt man den Preis formal auf volle Prämienfähigkeit. Doch auch hier gilt: Ein Tesla geht viel günstiger her, zumal nach Musks Rabattorgien, die Neukunden erfreut und Stammkunden massiv verärgern dürfte.

Leistung ohne Ende, aber wohin damit?

Alleinstellung Nummer 2: Überschäumende Leistung mit zwei Motoren (Synchron/Asynchron; 150+210 kW) und 700 Nm Drehomoment sind immer Serie beim Nio ET5. Aber wann kann man die 4 Sekunden auf 100 km/h schon mal ausfahren? Nicht jedenfalls im Düsseldorfer Umland, wo der ET5 passend zum bald avisierten "Power House", zu Deutsch Niederlassung, offiziell für Deutschland vom Stapel lässt. Der Komfortmodus drückt einen eh schon stramm in die Sitze, der Sport+-Modus ist überhaupt nichts für schwache Mägen oder schwindelanfällige Naturen. Sprich: Unnötiges Kilowattgeprotze - wie leider allgemein grassierend bei den Elektro-Limousinen, speziell der Oberklasse. Ganz ehrlich: Wir haben irgendwann den Eco-Modus aktiviert, der garantiert flottes, flüssiges und harmonisches Fortkommen, wie es generell dem Naturell des ET5 entspricht.

Kein oberster Dynamiker

Denn so sportlich, straff und spitz wie der Tesla Model 3 fährt sich der mit beiden Akkukapazitäten fast gleich schweren 2,15-Tonner bei weitem nicht. Zu gemütlich und etwas teigig die Lenkung, zu sehr auf Komfort ausgelegt das vorn und hinten mit Fünflenkeraufhängung gesegnete Fahrwerk, als dass man sich freudig durch die paar Landstraßenkurven zoomen würde. Und ohnehin: Meist striktes Tempolimit. So cruist man besser entspannt dahin, erfreut sich an der weitgehenden Abwesenheit von Wind- und Abrollgeräuschen und der guten Kapselung der Kabine und genießt die Aussicht durch das natürlich serienmäßige 1,3m²-Panoramadach, das sich aber wie üblich nicht öffnen lässt. Nicht gefunden haben wir übrigens einen "One-Pedal-Drive" und vermisst einen klassischen Bordcomputer im Zentraldisplay mit Streckenangaben.

Ruhiger Fahrstil wird mit gutem Verbrauch belohnt

Belohnt wird der ruhige Fahrstil, der gut zur ruhigen und unaufgeregten, fast zeitlosen Optik des ET5 passt, von einem Verbrauch, der am Ende der 100-Kilometer-Mix-Runde bei 18,4 kWh/100 km lag, wie immer, ohne Klimaanlage und im Eco-Betrieb. So gesehen hätte man den Wechsel der 100-kWh-Batterie gar nicht nötig gehabt, den man weil - Alleinstellung Nummer 3 - am beeindruckenden Ladepark der Bäckerei Schüren in Hilden probeweise vollzieht. Vorgebucht am Screen wird man von der vollautomatischen Station schon erwartet und sieht, wie viele Nio-User (nicht mehr Fahrer!) vor einem warten. Keiner!

Magisch, aber bei HPC fast obsolet: Akkutausch

Also, auf das Karèe gestellt, Taste aktiviert und das Einparken übernimmt schon das Fahrzeug selbst. Wie von Geisterhand und zugegebenermaßen für Menschen mit oder ohne Technikaffinität beeindruckend. Dann ruckelt und rumort es ein paar mal in den Eingeweiden der Karosse, klingt ein wenig nach Zahnarzt und fünf Minuten später hat man einen auf 89 kWh vorgeladenen Lithium-Ionen-Akku unterm mit feinem Velours belegten Flur. 590 Kilometer schafft der ET5 formal, wenn die Speicher mal auf 100 Prozent sein sollten, was der Hersteller nicht empfiehlt und die sogenannten Swap-Stationen laden auch nicht auf 100 Prozent rauf.

Der Bordlader macht bei 140 kW Schluss

Angemerkt sei, dass all die ein- und ausfahrenden Hochleistungs-Stromer anderer Fabrikate an den HPC-Säulen des Standorts von Tesla oder Fastned auch kaum länger am Kabel hingen, als man einen leckeren Schüren-Kaffee mit Backwaren zu sich nehmen kann. Und nebenbei erwähnt, dass der Nio mit 140 und 125 kW Ladeleistung sowie 11 kW in AC nicht zu den Top-Ladern des Segments gehört. Vollends überzeugt das Konzept von den Akkutauschstationen also noch nicht. Zumal das sogenannte "Battery as a service"-Konzept einhergeht mit dem zusätzlich zu buchenden Swap-Abo für nochmal 169 respektive 289 Euro Monatsgebühr. Aus Herstellersicht soll man einen Nio aber ja sowieso "abonnieren", man ist ja kein Käufer, sondern ein User! Keine neuen Maßstäbe setzt man auch beim Thema Garantie: Die Fahrzeug-Basisgarantie beträgt drei Jahre bzw. 90.000 km, eine optionale Garantieverlängerung auf fünf Jahre bzw. 150.000 km soll zeitnah ab Werk als Option angeboten, alles eher im Durchschnitt.

All die Assistenz wirft Fragen auf

Alleinstellung Nummer 4: Die intelligente Sprachassistenz Nomi Mate, wahlweise schlichtes Halo ohne die Glupschkugel auf dem Armaturenbrett. Naja, so viele Fragen haben wir beim Fahren gar nicht. Und den Witz, den sie uns erzählt, haben wir irgendwie nicht kapiert. Viel wichtiger wäre eine intuitive Verstellung der Lüftung, was immer rechtes Getapper am völlig ausreichend dimensionierten, recht stillvoll eingefügten und im ganzen Bedienkonzept an Tesla angelehnten 13"-Screen erfordert. Genauso wie die Verstellung von Spiegel oder Lenkrad. Worauf Nomi schnell mahnt: "Seien Sie aufmerksam!" Immerhin: Die Sitzjustage ist redundant ausgelegt und über die Taster am bequemen, nur im Kopfbereich etwas harten Gestühl schnell erledigt.

Nicht allzuviel Platz im Fond und Kofferraum

Vielleicht sollte man die Sitze auch etwas höher stellen, damit die Fondpassagiere ihre Füße problemlos unter den Vordersitz "montieren" können, um mit weniger angewinkelten Beinen dazuhocken. Denn richtig viel Platz bietet der ET5 für eine 4,80-Limousine mit stattlichen 1,96 Meter Breite nicht. Deutlich weniger luftig jedenfalls als im Model 3 oder bei den Koreanern von Kia (EV6) oder Hyundai (Ioniq5) geht es hier zu, eher Maßanzug als Chauffeurslimo. Die Kopffreiheit des 1,49 Meter hohen ET5 liegt trotz fünf Zentimeter mehr Höhe auch unter Tesla-Model-3-Niveau, geschuldet der eleganten und flachen und recht aerodynamischen Dachlinie (cW-Wert 0,24). Die ist zwar schön für die Außenoptik, aber nicht so schön für die Praktik.

Eine Heckklappe hätte zu hoch aufgetragen

Denn der feinen Linie mit schneidiger "Shark-Nose" und kesser "Duck-Tail" fiel auch eine etwaige Heckklappe zum Opfer, deren Scharniere so aufgetragen hätten, dass man ein höheres Dach gebraucht hätte. So bleibt eine ziemlich kleine Ladeluke, die zudem einen mit 396 Liter ziemlich winzigen Kofferraum erschließt, der außerdem ohne mittige Langgut-Durchlade auskommen muss. Auch hier liegt Tesla vorn, die Öffnung ist größer und das Volumen sowieso, tief bis in die unterste Etage. Zudem haben die Kalifornier noch einen Frunk in petto.

Nummer 4 lebt - und ein Familienmobil soll bald kommen

Und die Chinesen? Vertrösten auf den Nio Nummer 4, der dann auch die Bedürfnisse von Praktikern unter den E-Mobilisten bedienen soll. Der ET5 soll bewusst den Part der dedizierten, sportiven "Kompakt-Limousine" spielen. Familien sind da weitgehend raus, wobei der ab der speziell ab der "Cockpit-Mittellinie" deutlich preisbewusster, aber mit nachhaltigeren Clean-Polymere-Werkstoffen ausstaffierte ET5 diese Mankos mit dem Innen eine ganze Ecke edler gemachten ET7 teilt, auch kein Praktiker unter den Limousinen. Womit man wieder beim Tesla wäre: dem Model S.

VM-Fazit:

Unterm Strich greifen die Alleinstellungsargumente des vom chinesischen Weltbürger William Li vor knapp zehn Jahren aus der Smog-Erfahrung heraus gegründeten Herstellers nur zum Teil: Die Leistung ist lässlich, die Automatisierung funktioniert (noch) nicht wirklich geschmeidig - und die Sprachassistenz durch Nomi ist nett, aber BMW beherrscht dieses Feld ebenso besser wie die Fahrerassistenz. Schöne Premium-Interieurs sowieso. Der Verbrauch geht in Ordnung, Handling und Fahrwerk auch, setzen aber keine neuen Maßstäbe. Letztlich kann der Nio nicht so viel mehr als ein Tesla Model 3, dass es den hohen Mehrpreis rechtfertigen würde, mal abgesehen von Stil- und Designfragen. Für das Gebotene ist der Preis dann doch ganz schön "Premium". Aber wie gesagt: Die Global-Marke aus dem Reich der Mitte lernt enorm schnell - und sie hat einen langen Atem, mit bisher ausreichender finanzieller Puste.

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