Verabschiedet sich die Autoindustrie aus Deutschland?
Trotz voller Auftragsbücher und einem zufriedenstellenden Jahr 2021 planen die deutschen Autohersteller starke Einschnitte – vor allem in den deutschen Werken. Als Treiber dafür gilt die Elektrifizierung, aber auch die Corona- und Chipkrise wird hergenommen, teure deutsche Arbeitsplätze abzubauen. Dazu hat die Branchenplattform „Automobilproduktion“ zahlen und Begründungen parat: Laut einer Studie des Beratungsunternehmens EY haben die 16 größten Autohersteller auf der Welt zwischen Januar und Ende Juni 2021 Betriebsgewinne von zusammen 71,5 Milliarden Euro eingefahren, was ein neuer Rekord ist. Trotz neuer Corona-Welle und Chipmangel, wodurch der weltweite Pkw-Absatz weiter unter Vor-Corona-Niveau bleibt, heißt in Zahlen: Im ersten Halbjahr 2021 gingen laut der Studie nur 33,5 Millionen Fahrzeuge an Kunden, rund elf Prozent weniger als im Vergleichshalbjahr 2019.
Bei Daimler verbesserte sich der Konzern-EBIT dank günstigerem Produktmix, hoher Umsatzqualität und konsequenter Fixkostendisziplin. VW nach einem starken ersten Halbjahr 2021 die Prognose der operativen Konzernrendite für das Gesamtjahr auf 6,0 bis 7,5 Prozent. Die BMW Group verkündet ebenfalls einen Absatzzuwachs von 17,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die Branche meldet laut Automobilproduktion einen hohen bereinigten Netto-Cash-flow von 12,3 Milliarden Euro und einen Anstieg der Netto-Liquidität auf 35 Milliarden Euro.
Und trotzdem läuft aktuell eine große Kündigungswelle vor allem durch die teuren deutschen Standorte. Aktuell diskutiert man bei BMW den Abbau von 6.000 Stellen, Schaeffler will die Belegschaft um 4.400 Mitarbeiter reduzieren und bei BASF plant man, bis Ende 2022 rund 2.000 Stellen abzubauen – vor allem in den deutschen Standorten. Herbert Diess denkt bei der Transformation laut über den Wegfall von bis zu 30.000 Jobs bei VW nach, vor allem an deutschen Standorten samt den „Dickschiffen“ Wolfsburg und Hannover. Und Stellantis dachte laut darüber nach, die Opel-Werke Eisenach und Rüsselsheim in eine eigenständige Rechtsorganisation auszugliedern.
Aktuell werden bei fast allen Konzernen großzügige Abfindungen angeboten oder der Schritt in die Altersteilzeit erleichtert, so dass man den Stellenabbau über die „natürliche Fluktuation“ kaschieren respektive unterstützen kann, dazu kommt einmal mehr der Abbau von Leiharbeitern.
Elektromobilität braucht weniger Arbeitsplätze
Wie groß der Kahlschlag wegen der Elektromobilität tatsächlich ausfallen könnte, wird derzeit unterschiedlich bewertet. Eine Studie der Denkfabrik Agora Verkehrswende und der Boston Consulting Group (BCG) geht davon aus, dass die Autobranche bis 2030 auf 180.000 Arbeitsplätze verzichten kann. Der Umweltverband „BUND“ geht von bis zu 360.000 Arbeitsplätzen aus, gelegentlich wird auch die 400.000er-Marke gerissen. Immerhin gehen bis 2030 vor allem viele Arbeitnehmer der geburtenstarken 1960er-Jahre in Rente, was den Stellenabbau etwas abfedern dürfte. Gleichwohl erzählen Insider, dass manche Stellen auch in Design und Entwicklung „schon seit Jahren“ nicht mehr nachbesetzt würden, obwohl diese offiziell noch existierten, aber per Einstellungsstopp unbesetzt bleiben. Eine Studie des Ifo-Institutes im Auftrag des VDA kommt bis 2030 zum Ergebnis, dass rund 147.000 Mitarbeiter aus der Automobilproduktion in Rente gehen, davon 73.000 im Fahrzeugbau. Allerdings sollen dann immer noch 215.000 Menschen Jobs haben, die von Verbrennungsmotoren abhängen würden. Weshalb man davon ausgehen muss, dass mehr Arbeitsplätze abgebaut werden müssen.
Covid als Ausrede für den Ausstieg
Bei Daimler strebt CEO Ola Källenius Entlassungen an, die wegen der Transformation zu Elektromobilität unumgänglich seien. Und das, obwohl in der Zukunftssicherung 2030 noch unter Källenius‘ Vorgänger Dieter Zetsche betriebsbedingte Kündigungen bis zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen wurden. Erschwerend kommt hinzu, dass neue Modelle immer öfter in Billiglohnländer abwandern: So wird der EQB beispielsweise ausschließlich in Ungarn montiert und auch BMW denkt durchaus über neue Werke nach: Ebenfalls in Ungarn. Immer öfter nutzen die Unternehmen die Covid-19-Pandemie als Ausstieg aus Betriebsvereinbarungen. Denn können außer Kraft gesetzt werden, wenn sich die wirtschaftliche Situation eines Unternehmens drastisch ändert. Was während der Pandemie der Fall war.
Was bedeutet das?
Gewerkschaften und die neue Regierung dürften sich schwer tun, den Autostandort Deutschland vollumfänglich in alter Größe zu erhalten – schon in den letzten Jahren wanderten die Produktionen auch bei den Premiumherstellern verstärkt ins lohntechnisch günstigere Ausland ab. Die Frage ist nur, mit welchen Jobs die Lücken der Automobilproduktion gefüllt werden sollen – denn nicht jeder handwerklich begabte Werker ist ein guter Schreibtischtäter, Start-upper oder Finanzgenie. Umso wichtiger wäre es, den Ausbau alternativer Mobilität, Software und neuer Produktionen (Solar-und Windenergie) zu fördern.
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