Tempo 30: Sieben Städte wollen Limit mit Pilotprojekt untermauern
Mit einem geplanten Modellprojekt in sieben Großstädten kommt Bewegung in die Debatte um Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit innerorts. Dies soll nach der Bundestagswahl über eine Änderung der Straßenverkehrsordnung möglich werden, so die Hoffnung. Weil das Bundesverkehrsministerium unter Andreas Scheuer (CSU) den Kommunen bisher die Option einer generelle Einführung eines niedrigeren Tempolimits in den Städten verweigert, beklagte Städtetagspräsident und Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), die Kommunen könnten am besten entscheiden, welche Geschwindigkeit in welchen Straßen angemessen ist. Man wolle den Verkehr in den Cities effizienter, klimaschonender und sicherer machen, so Jung weiter.
Mehr Schutz für Schwächere
Von den sieben beteiligten Städten Aachen, Augsburg, Freiburg, Hannover, Leipzig, Münster und Ulm kam die Aussage, dass das Projekt sich nicht gegen die Autofahrer richte, sondern für mehr Sicherheit für schwächere Verkehrsteilnehmer wie Radfahrer und Fußgänger. Diese würden mit einer niedrigeren Regelgeschwindigkeit besser geschützt, erklärten die Kommunen. Außerdem reduziere man mit der Maßnahme Verkehrslärm und Schadstoffbelastung der Luft. In den sieben Städten soll dann generell Tempo 30 gelten, Ausnahme mit der bisherhigen Regelgeschwindigkeit 50 wären dann nur noch Hauptverkehrsachsen. Die Leistungsfähigkeit der Straßen werde davon nicht beeinträchtigt, die Aufenthaltsqualität aber gesteigert, sind sich die Kommunen sicher.
Im Mai hatte Spanien mit sofortiger Wirkung die Höchstgeschwindigkeit auf Hauptstraßen auf 30 km/h herabgesetzt. Die Vereinten Nationen fokussierten das Thema unter dem Motto #love30 und auch die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte sich für weltweit Tempo 30 in Städten und Dörfern ausgesprochen. In Frankreich gilt Tempo 30 seit 2020 in 200 Städten und soll zu 70 Prozent weniger tödlichen Unfällen geführt haben, wie die Deutsche Umwelthilfe berichtete.
VW-Chef Diess: Mit der Elektrifizierung für eine Limitierung
In dem Kontext nahm auch die Debatte über ein Tempolimit auf Autobahnen wieder Fahrt auf. Weiterhin lehnt CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet im Gegensatz zum Koalitionspartner SPD und den oppositionellen Grünen eine Limitierung ab und bezeichnete es gar als "unlogisch". Man müsse vielmehr die Technologien verbessern, "anstatt unsinnige Debatten wie die über ein pauschales Tempolimit zu führen", erklärte der NRW-Ministerpräsident gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
"Warum soll ein Elektrofahrzeug, das keine Emissionen verursacht, nicht schneller als 130 km/h fahren dürfen", fragte Laschet rhetorisch.
In der Industrie wächst dagegen offenbar die Bereitschaft, dass auch im weltweiten Ausnahmeland bald eine Limitierung eingeführt werden könnte. Eine Einführung bedürfe keiner weiteren Vorbereitung, beschied VW-Konzernchef Herbert Diess gegenüber dem Handelsblatt. Zudem werde in der elektrischen Antriebswelt ohnehin langsamer gefahren, weil die Reichweite ab 160 km/h beachtlich sinke. Tempo 200 fahre man nur für kurze Zeit. Auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat DVR wirbt seit langem für ein Limit und sieht darin laut Präsident Walter Eichendorf eine "kostengünstige und einfach umzusetzende Maßnahme, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen".
Was bedeutet das?
Scheint, dass die Union sich in den 80er-Jahren eingraben hat und die autogerechte Stadt wie eine Festung verteidigt, sekundiert von den willigen Adjuntanten einer FDP, die unter "Freiheit" nurmehr die "Freiheit zum Rasen, Fliegen, Grillen" versteht. Langsam steht die "alte Garde" aber einsam da, wenn sogar schon VW-Chef Diess dafür wirbt, doch die sensible Reichweite von E-Autos nicht mit Tempoorgien einzudampfen.
Tempo 30 gilt seit Jahren als einer der "game changer" in der städtischen Verkehrspolitik, nicht nur wegen Lärm und Abgas und weil der Verkehrsfluss nach allem, was man weiß, gar nicht mal schlechter ist. Vor allem auch aus Sicherheitsaspekten, die ein weites Feld eröffnen.
Denn bei Tempo 30 könnten die Kommunen auch Radfahrer dort integrieren, wo sie eigentlich hingehören - auf die Straße und nicht auf den Gehweg. Die geringere, eigentlich de facto nicht mehr vorhandene Differenzgeschwindigkeit würde das erlauben. Auch die immer zahlreicheren Lastenräder wären, so wie es Bilder aus den 20er-Jahren dokumentieren, als Straßenverkehrsteilnehmer besser aufgehoben.
Freischankflächen wie im Süden: Corona hat deutsche Städte verändert
So enstünde Platz für den Fußverkehr - und für mehr Aufenthaltsqualität, etwa durch die in der Pandemie etablierten "Schani-Gärten" alias "Freischankflächen", die offengelegt haben, wie attraktiv und lebendig, ja fast südländisch, deutsche Städte sein könnten, wenn, ja, wenn man sich nicht jahrzehntelang in Straßenkampf Fußgänger gegen Radler gegen Autos verstrickt hätte. Schon jetzt gibt es unzählige Konflikte, weil die Schankflächen natürlich den Gehweg einengen und die Fußgänger wiederum auf den Radweg usw. usf.
Eine Entlastungsoffensive tut Not. Und zwar eine, die nicht viel kostet, aber viel bringt. Denn die Kommunen sind nach Corona dermaßen klamm, dass es nicht für eine teure und zeitraubende zweite Wegeinfrastruktur reichen wird. Die Zahl der Radler steigt rasant, den Rückenwind muss man sofort nutzen, bevor die Enttäuschung sich Bahn bricht und mancher Pedalist ins Auto zurückkehrt.
Was soll das auch: Straßen haben wir genug. Und die sind numal für alle Verkehrsmittel da. Es wird Zeit, dass Scheuer aus dem Schützengraben steigt - oder noch besser: Abgewählt wird. Und einer wirklich ideologiefreien Politik Platz macht, die ein Tempolimit auf Autobahnen nicht als "gegen jeden Menschenverstand" bezeichnet. Sondern als genau das, was es erst recht unter den Vorzeichen der Klimakrise ist: Ein Gebot des gesunden Menschenverstandes.
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