Report 7 Jahre Ionity: Nicht nur ein Ladepunkt – ein Wendepunkt!
„Wir stehen hier nicht nur an einem Ladepunkt – wir stehen an einem Wendepunkt, einem Energiewendepunkt“, proklamiert Christoph Strecker, Country Manager DACH an einem feucht-kühlen Novembertat auf einem auf den ersten Blick wenig spektakulären Dreiecksgrundstück im Gewerbegebiet Parsdorf an der A94 bei München zwischen schablonisierten Gewerbewürfeln und strahlt scharf mit dem Umfeld kontrastierende Zuversicht aus. Die Zukunft ist elektrisch, die Mobilität auch, ist er sicher. Und jüngstes Symbol ist die Anlage mit 24 brandneuen Ladepunkten am strategisch günstigen Scheitelpunkt von A99 und A94 die aktuell größte und neueste Anlage des Ladenetz-Joint-Ventures der großen deutschen Autohersteller, der Hyundai-Gruppe sowie seit 2021 des Finanzinvestors Blackrock.
Strecker, seit Anbeginn des „Ionity-Abenteuers“ vor sieben Jahren an Bord, stellt vor, welche komplexen Prozesse hinter einem für Außenstehende profan wirkenden Ladepark stecken, über die man sich keine Vorstellungen macht. Denn wirklich jeder Standort in den 24 europäischen Ländern, die Ionity bedient, ist anders und hat seine spezifischen Eigenheiten, die es zu berücksichtigen gilt. In UK ist etwa die Eigentumsfrage an den Grundstücken sehr komplex.
In Deutschland gibt es 860 Netzbetreiber
Deutsche Spezialität: 860 verschiedene Netzbetreiber, die alle eigene Anforderungen, sogenannte technische Anschlussbedingungen haben. Dafür müssen Strecker und das Ionity-Team, in Deutschland hat der Ladenetzspezialist 150 Mitarbeiter, 100 davon in München, jeweils individuelle Technikdesigns entwerfen, die durch die Genehmigungsverfahren laufen müssen.
Zwölf bis 24 Monate dauert es, bis so ein Standort wirklich realisiert ist, Deutschland liegt von der Realisationsdauer eher über dem Durchschnitt, 1 Jahr plus sechs Monate, siehe oben. Alleine sechs bis zwölf Monate dauert ein Netzanschluss, dann müssen die Komponenten in den Ladesäulen und Trafo- und Gleichrichter-Schränken, die äußerlich abgesehen von den beiden hier verbauten Herstellern ABB und Alpitronic Hypercharger ziemlich gleich aussehen, innerlich mit den passenden Komponenten bestückt werden.
Was für Parsdorf passt, muss nicht auch für Kassel passen
Was in Parsdorf passt, muss also nicht in Kassel passen. Sodass die Skalierung der Technologie gar nicht so leicht ist – die technische Komplexität umso größer. Hinzu kommen Features wie die Ansteuerbarkeit der einzelnen Säulen für den Netzbetreiber mittels kleiner Antennen, um nötigenfalls die Ladeleistung am Ladepark herunterfahren zu können, wenn das gesamte Gewerbegebiet das erfordern sollte.
Eigenes Testcenter erprobt die Ladelösungen
Die jeweiligen Lösungen werden zuvor im eigenen Testcenter in Unterschleißheim unter Leitung von Carmen Montes, Teamlead Charging Technology, intensiv getestet, natürlich mit bis zu 400 kW Leistung, mit Testequipment auf einem eigenen Simulationstruck und im Gebäude selbst, das über einen 2-Megawatt-Netzanschluss verfügt. Übrigens experimentieren Montes und ihr Team auch mit den weiteren beiden Herstellern Tritium aus Australien und Ekoenergetyca aus Polen und mit Zukunftstechnologien wie Robo-Charging oder Plug & Charge.
Auch der Verschleiß der Systeme kann hier ein Stückweit simuliert werden, wichtig für die späteren Betriebskosten der Anlagen. Selbstredend optimiert man hier auch mit Hilfe der E-Fahrzeuge vor allem der Joint-Venture-Partner, auf deren Technik man vollen Zugriff hat, wie CEO Jeroen van Tilburg, der Ex-Head-of-Charging bei Tesla und neue CEO von Ionity später im Headquarter auf dem ehemaligen Knorr-Bremse Gelände in München-Nord erklärt. Als „White Label“-Netzwerk können aber natürlich Fahrzeuge aller Marken hier laden – und sie tun das auch fleißig während unserer Visite in Parsdorf.
Mix aus ABB und Alpitronic-Säulen
Der interessante Mix aus 350-kW-Solo-Säulen von ABB mit dem typischen „Ionity-Halo“, dem Lichtkranz obenauf, und den fast schon standardisierten Alpitronic Hyperchargern mit 2x200 kW überrascht erst. Erklärt sich dann aber laut Christian Strecker aus den unterschiedlichen Bedürfnissen. Die Alpitronic kostet weniger Platz, braucht keinen externen Trafoschrank, genügt für 90 Prozent der Anwender, weil die Fahrzeuge ohnehin nicht mehr als 200 kW ziehen können. Die ABB-Säulen peilen auf die Highend-Klientel, die heute schon mit 250 kW und mehr an den Start geht, wie etwa die drei Lucid Limousinen, die als Shuttle-Dienst den Ladepark frequentieren.
Außerdem, so meint Carmen Montes, seien die ABB-Lader auch in die Zukunft geplant, wenn immer mehr Fahrzeuge auf 800-Volt-Basis dazu kämen, aktuell im Joint-Venture nur die Hyundai- und Kia-Modelle sowie Porsche und Audi, bald auch Mercedes und BMW. Hardwareseitig baut man damit also auch vor. Und auch Tesla-Kunden kämen vom just gegenüber gelegenen Supercharger-Park dann gerne mal auf die andere Seite: Weil’s hier mit 350 kW zur Sache geht. Überhaupt sieht man sich als klarer Marktführer in Europa im HPC-Bereich über 250 kW Leistung, 99 Prozent der Ionity-Anlagen verfügen über 350 kW Leistung, reklamiert CEO van Tilburg.
Balanceakt: Unzählige Baustellen gleichzeitig
100 Baustellen auf meist gepachteten Grundstücken – die Immobiliengeschichte steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt - hat man aktuell am Laufen, weiß Christian Strecker und es hört sich an wie der berühmte „Sack Flöhe“. Parallel werden also die Verfahren und Baumaßnahmen vorangetrieben. Für mehr Tempo könnte die Genehmigungsfreiheit für E-Mobilitätslösungen sorgen, die etwa in Bayern seit kurzem gilt. Allerdings meint Strecker müsse sich diese dann konsequenterweise auf den gesamten Ladepark beziehen und nicht nur auf einzelne Säulen oder Produkte. Wie immer kommt es also auf das „Kleingedruckte“ an.
600.000 bis zu einer Million Euro kostet so eine Anlage mit den bei Ionity typischen mindestens sechs Ladepunkten. Der Grund für den „Sechser“ liegt darin, dass man, wie CEO van Tilburg erklärt, hohe Zuverlässigkeit der Anlage sicherstellen will – und die steige nun mal mit der Zahl der Säulen. Wenn eine mal ausfallen sollte, hat der Nutzende immer noch fünf weitere zur Wahl. Van Tilburg verweist nicht ohne Stolz auf die hohe Funktionsquote, die man im Ionity-Netzwerk habe.
Überdachung: Teuer, aber zahlt der Kunde dafür?
Auf die Frage, warum die Anlage denn nicht überdacht sei, hat Strecker eine simple Antwort: Einfach weil es sehr teuer ist und im Gesamtbudget durchaus relevant: Mehrere 100.000 Euro sind für ein „Dach über der Säule“ fällig. Er sehe nicht, dass die Kunden bereit seien, dafür zu bezahlen. Sprich, den meisten ist das egal, wenn nur die Ladeleistung passt. Und trendige PV-Bedachung, mit der Wettbewerber wie EnBW oder Fastned werben, hält Strecker mehr oder minder für „teures“ Marketing. Schließlich könne man bei 10 bis maximal 30 kW Peakleistung eines PV-Dachs kaum Geld verdienen, die Strommenge sei marginal.
Gleiches gilt aus Streckers Sicht übrigens für puffergespeicherte Systeme, die zwar immer günstiger würden. Aber man benötige eben auch gewaltige Speicher von 1.000 kWh, um an einem Ladepark die gleichzeitig benötigte Strommenge für die E-Fahrzeuge bereitzustellen. Besser ist aus seiner Sicht fast immer ein starker Netzanschluss.
Keine Sorge: Ökostrom legt weiter stark zu
Was die Sorge speziell der Deutschen betrifft, dass gar nicht genug Strom zur Verfügung stünde, für all die Elektroautos, kontert Strecker mit nüchternen Fakten. Der Anteil der regenerativen Energien im Netz lag 2023 bei 56 Prozent, im ersten Halbjahr 2024 bereits über 60 Prozent. Der Zubau schreite weiter rasant voran, sodass die rechnerisch-akademisch für alle Pkw in Deutschland benötigen 20 Prozent mehr Strom bis in ein paar Jahren kein Problem mehr sein sollten. Naja, und die Deutschen machen sich auch lieber über solche Eventualitäten Gedanken, als E-Autos zu kaufen und es einfach mal zu probieren.
Klar, dass man in Parsdorf wie an allen aktuell knapp 700 Standorten mit 4.500 Ladepunkten in 24 Ländern Ökostrom „verzapft“, den man teils direkt von den Energieerzeugern bezieht, Grünstom der höchsten Kategorie, wie Strecker betont. 30 bis 40 kWh ziehen sich die Kunden im Schnitt pro Ladevorgang. Sie verweilen durchschnittlich 27 Minuten. Zeit, in der man sich in Parsdorf, wie auf den eigens angebrachten Schildern dargestellt, etwa bei naheliegenden Schnellrestaurants oder im Supermarkt versorgen kann.
Individuelle Ladebedingungen erschweren Transparenz
Apropos: Dass die Preise noch nicht wie an Tankstellen gewohnt, mit großen Schildern ausgewiesen werden am Entree, hat auch den Grund in der aktuell noch komplexen Ladesituation mit unzähligen CPOs (Ladenetzbetreiber) sowie eMSP (E-Mobilitäts-Dienstleister), weswegen jeder Kunde möglicherweise einen individuellen Preis und eigene Konditionen hat. Pay-per-Use-Bezahlterminals zu verbauen, lehnt van Tilburg ziemlich entschlossen ab: Viel zu viel Aufwand, für viel zu wenige Nutzer, - und aus seiner digital orientierten Sicht ein Rückschritt, respektive perspektivisch ein Auslaufmodell. Auch das Thema Plug-and-Charge, bei Tesla vis-a-vis selbstverständlich, hat Strecker seit 2020 ladetechnisch in petto bei Ionity, aber bisher seien ja nur wenige Fahrzeuge außer den Kaliforniern dazu fähig.
Und klar gehe man aktuell ordentlich in die Vorleistung mit dem Ausbau der HPC-Ladeinfrastruktur. Aber Strecker wie CEO van Tilburg erwarten trotz der aktuellen E-Flaute speziell in Deutschland, in den nächsten Jahren einen raschen Zuwachs in der BEV-Flotte, auch aufgrund des CO2-Grenzwertregimes der EU. Schon heute operiere man aber EBITDA-seitig profitabel als Unternehmen, unterstreicht van Tilburg.
Dynamische Tarifierung für Flaute-Zeiten im Blick
Dazu trägt auch der Zuschnitt der Ladeparks bei, in Parsdorf auf Zuwachs gebaut, aber normalerweise so dimensioniert, dass man seltene Peaks wie in der Haupturlaubszeit noch nicht lösen kann. Das muss man allerdings noch in Kauf nehmen. Will aber abhelfen, indem man künftig etwa für dynamische Strompreise nach Auslastung der Anlagen sorgt und die Kunden mit Preisvorteilen aus den Spitzenzeiten lockt.
Geht eine Anlage in Betrieb, wird sie übrigens auch in die Navigationssoftware der Hersteller eingespielt und ist damit in die Live-Routenplanung integrierbar. Auch hier steckt jede Menge Komplexität im System, die dem Nutzenden so nicht bewusst ist. Anders als Tesla greift man allerdings nicht auf die Routenplanung der Fahrzeuge zu, sodass man tatsächlich nicht weiß, ob etwa in der nächsten Stunde ein Stau an der Ladesäule droht.
Mission erfüllt: Alle 150 Kilometer ein Ionity-Park
Nachdem man im Gesamtnetzwerk das vor sieben Jahren gesetzte Ziel, an Fernstraßen alle 150 Kilometer eine Station anzubieten, nach eigenen Angaben bis auf wenige Ausnahmen erreicht hat und damit auch den Deutschen jede Reichweitenangst genommen haben will, möchte man nach der Fläche nun in die Tiefe gehen. Sprich: Verdichten und zwar speziell in die Städte.
"Unser Ziel ist es, die Bedürfnisse unserer Kund:innen dort zu erfüllen, wo sie entstehen. Langstrecken bleiben für uns weiterhin eine Priorität – gleichzeitig tragen wir der Tatsache Rechnung, dass nur einer von zehn Ladevorgängen auf der Autobahn durchgeführt wird. Indem wir unser Ladenetz in städtische Regionen ausweiten, reagieren wir gezielt auf die Anforderungen des täglichen Ladens“, skizziert van Tilburg.
Man erwartet einen Shift vom bisher wichtigen Heimladen (2022 noch 59 %, bis 2030 nur noch 39 %) hin zum urbanen Laden, weil immer mehr Stadtbewohner auch Elektroautos eignen würden. Auf ein Viertel taxiert der CEO bis 2030 den Anteil urbaner Lader. Der Bedarf steigt hier also, meint van Tilburg. Und da will man natürlich bereit sein. Dafür habe man das klare Commitment der Shareholder – und sieht im Augenblick auch keine Notwendigkeit einer Erweiterung des Kreises, etwa um eine China-Marke wie BYD, stellt der CEO klar.
Die Hubs der Hersteller sind eher "Flagship-Stores"
Die Bemühungen um den Aufbau eigener Hersteller-Ladenetzwerke oder Charging Hubs wie bei Audi oder Mercedes-Benz sieht von Tilburg übrigens eher als „Flagship“-Stores der Anbieter und als Ergänzung, denn als „Konkurrenz im eigenen Haus“. Und im gesamten Wettbewerb rechnet der Ex-Tesla-Manager mit einer baldigen Konsolidierung unter den vielen hunderten, teils sehr lokal operierenden Anbietern, bei der er Ionity natürlich als einen der überlebenden Player sieht. Und zwar einen – im Gegensatz zu EnBW – internationalen und nicht nur auf Deutschland fixierten, wie der Niederländer spitz anmerkt. Auch vor den Ablegern der Ölkonzerne wie aral pulse oder shell recharge ist ihm nicht bang.
Auch Flotten und E-Vans im Visier
Zudem peilt man perspektivisch auf Flotten mit Pkw und Vans, die man als Kundengruppe stärker erschließen will. Lkw dagegen nimmt man aktuell als „Beifang“ mit, sie passen aber nicht ins Ionity-Konzept, das sich zwar um ein „durchfahrbares“ Layout bemüht, wo es geht, das aber nicht garantieren kann. Man verweist galant an die Kollegen des ähnlich „gestrickten“ Lkw-Lade-Joint Ventures von Volvo, Traton und Daimler Truck namens Milence. Zudem sind neue Features mit der neuen App geplant. Ursprünglich als Zahlungsmittel entwickelt, soll die neue Applikation unter anderem einen verbesserten Routenplaner, einfacheres Laden und eine optimierte Nutzer:innenführung bieten. Perspektivisch peilt man auch die dynamische Tarifierung je nach Andrang an.
Technologietreiber und nicht "Spritverkäufer"
Das wäre dann sogar besser als an der Tankstelle: Und schließlich sieht van Tilburg sein Unternehmen als innovationstreibenden Tech-Player, nicht als „schnöden Spritverkäufer“. „Die Transformation hört nicht mehr auf – und die Elektromobilität ist gekommen, um zu bleiben“. Sie war sogar schon mal da, wie Christian Strecker mit Verweis auf die Dominanz elektrischer Fahrzeuge zwischen 1899 und 1911 draußen in Parsdorf einleitend einwirft. Und jetzt sieht er die Zeit endgültig reif, für den E-Antrieb und seine Vorteile. Leise, sauber, performant - und Strom gibt’s schließlich überall. Schnellen Strom bei Ionity alle 150 Kilometer.
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