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Meinungsbeitrag

Regierungsbeschlüsse: Sozial-liberaler Stamm mit grünen (Feigen)Blättern

Widersprüchliche Bilanz eines Ampel-Marathons: Autobahnprojekte priorisieren, aber auch die Schiene. In die soll zu 80 Prozent die erhöhte und auf 3,5 Tonnen ausgeweitete Lkw-Maut fließen. Und: Wenn man die Ziele im Verkehr reißt, können andere Sektoren einspringen. Umweltschützer sind entsetzt, Ökonomen loben das Paket als pragmatisch. Ein kommentierter Überblick.

Klimaschutz nach der "Ja, aber"-Methode: Die Bundesregierung lässt es weiterhin an Entschlossenheit mangeln - und will alles unter einen Hut bekommen. | Foto: Iveco/Kai Bublitz
Klimaschutz nach der "Ja, aber"-Methode: Die Bundesregierung lässt es weiterhin an Entschlossenheit mangeln - und will alles unter einen Hut bekommen. | Foto: Iveco/Kai Bublitz
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Johannes Reichel

So viele Kröten können die Grünen gar nicht schlucken, wie sie sie serviert bekamen, bei der jüngsten absurd langen Sitzung des Koalitionsausschusses. Ganz zu schweigen davon, dass das von der Regierung und speziell ihrem sozial-liberalen Teil weitgehend ignorierte Artensterben kaum noch Kröten in der Natur übrig lässt. Doch bittere Ironie beiseite: Man ist sich in Anbetracht des inhaltlich vielfach schon aus dem Koalitionsvertrag bekannten Papiers nicht sicher, ob große Teile der Regierung, die immer mehr zu einer sozial-liberalen Koalition mit grünem Anhängsel mutiert, den Ernst der Lage wirklich verstanden haben.

Sie ignoriere nicht nur Gerichtsurteile von höchster Stelle, sondern teils auch die naturwissenschaftlichen Fakten, monieren Umweltschützer. Und Energieexpertin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung meint gegenüber der SZ, von einem "Klimakanzler Scholz" sei nichst mehr zu sehen und die "Blockade-Partei FDP" habe sich durchgesetzt. Allerdings: Ökonomen wie die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer sehen die Beschlüsse als "pragmatische und vernünftige Lösungen an". Und für Wirtschaftsweise-Kollegin Veronika Grimm hätte sich gezeigt, dass die Koalition handlungsfähig sei. Das sei ein wichtiges Signal.

Wichtiges Signal wäre aber auch gewesen: Tempolimits 130 und 30 km/h, Abbau fossiler Auto-Subventionen wie Diesel- und Dienstwagenprivileg oder Pendlerpauschale, essentiell für einen schnelleren Hochlauf der E-Mobilität, ebenso City- oder Pkw-Maut. All das fehlt in dem Papier schmerzlich und es fällt überhaupt auf, was alles nicht drin steht.

Letzlich fehlte die Ehrlichkeit fehlte, zu erklären, dass sich vieles ändern muss, damit sich nicht alles ändert. Eher lullt man die Leute in Scholzscher Manier ein und proklamiert, man dürfe niemanden überfordern, müsse alle mitnehmen, dürfe niemanden im Stich lassen. Nur der Grüne Robert Habeck spricht ein ehrliches Wort: "Wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Veränderung in der Regel Zumutung bedeutet. Dass sich Machtverhältnisse neu justieren", gibt er bei einem just folgenden Termin ausgerechnet im Weltsaal des Auswärtigen Amts zu Protokoll. 

Immer wieder: "Technologieoffen"

Stattdessen will man "ausreichende Übergangszeiträume" beim Einbau neuer Öl- und Gasheizungen schaffen, einen "technologieoffenen Ansatz" verfolgen, als käme die Klimakrise überraschend und als hätten wir nicht längst "ausreichende Übergangszeiträume" gehabt. Auch hier kommt allerdings Zustimmung von Ökonomen: So wende sich die Stimmung nicht gegen Klimaschutz, kommentierte Veronika Grimm. Es sei gelungen, die "negativen Aspekte abzuräumen". Die "Technologieoffenheit" im Verkehr wiederum wird eher negativ beurteilt. "Die E-Fuel-Debatte ist eine Scheindebatte", meint Grimm. Diese Kraftstoffe aus Wasserstoff seien zu teuer, Verbrenner würden ohnehin zurückgedrängt, glaubt die Ökonomin. Und DIW-Expertin Kemfert weist darauf hin: "Selbst die Autoindustrie wünscht sich klimataugliche Ordnungspolitik". Sprich: Ein Verbrennerverbot schaffe Planungssicherheit.

Wo sich alle einig sind: Lkw-Maut erhöhen!

Im Verkehrssektor geht man dahin, wo der geringste Widerstand zu erwarten ist und erhöht die Lkw-Maut: Ab 2024 soll ein CO2-Aufschlag von 200 Euro pro Tonne gelten, ebenso Lkw-Maut schon ab 3,5 Tonnen. Nicht erwähnend, dass das nichts anderes ist als eine Steuererhöhung durch's Hintertürchen, weil die Aufschläge irgendwann zu den Verbrauchern durchgereicht werden. Offen bleibt auch, wie die chronisch margenschwache Transportbranche sofort auf emissionsfreie Lkw umstellen soll, die dann nur bis 2025 von der Maut befreit wären und danach dann 25 Prozent des regulären Satzes zahlen.

In Anbetracht der Verdoppelung der Lkw-Maut ab 2024 spricht der Branchenverband BGL denn auch von "politischem Harakiri", ohne am Markt verfügbare Alternativen zum Diesel-Lkw und ohne Ladeinfrastruktur. Immerhin: Auch an dieser Stelle kommt Zustimmung aus der Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftsweise Grimm lobt den Plan, Gelder von der Straße quasi auf die Schiene umzuleiten. Allerdings hätte man auch hinzufügen können, dass dieser Tatbestand gleichfalls von einer Pkw-Maut erfüllt wäre, diese heiße eisen fasst die Ampel aber nicht an.

Weitere Beschlüsse aus dem Verkehrsbereich:

  • Den dafür nötigen Ausbau der Lkw-Lade- oder H2-Tankinfrastruktur will man immerhin unterstützen, die Anschaffung von E-Lkw weiter fördern.
  • Pkw-Ladeinfrastruktur ausbauen, in Gebäuden (GEIG) bereits beschlossen, aber etwa auch mit einer Verpflichtung von Tankstellenbetreibern, "binnen fünf Jahren mindestens einen Schnellladepunkt pro Tankstelle zu errichten". Ausnahme: Betreiber kleiner Tankstellen.
  • Vorausschauender Ausbau Verteilnetze
  • Zusätzliche Potenziale für Ladesäulenausbau heben: BMWK und BMDV wollen prüfen, wie zusätzliche Potenziale bei Zulassungs- und Netzanschlussverfahren für
    Ladesäulen gehoben (u.a. Eichrecht, digitale Antragsverfahren) und Netzanschlusskosten reduziert werden können.
  • Synthetische Kraftstoffe (ein fast einseitiges und zur marginalen Bedeutung überproportionales Kapitel). Sogenannte E-Fuels sollen verstärkt genutzt werden, man will Produktion und Nutzung "kurzfristig anreizen", heißt es, auch mit Verweis auf den Kompromiss der Bundesregierung mit der EU, auch nach 2035 noch Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor zulassen zu können, sofern diese ausschließlich E-Fuel-betrieben sind.
  • In der Kraftstoffbesteuerung will man künftig stärker nach Umwelt- und Klimawirkung differenzieren
  • Das Straßenverkehrsrecht soll künftig auch Klima- und Umweltschutzziele berücksichtigen und der Ausbau des Glasfaser- und Mobilfunknetzes Homeoffice erleichtert und Wege vermeiden.
  • Öffentliche Fuhrparks sollen ab 2030 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge anschaffen, beispielsweise Busse für den Nahverkehr
  • Carsharing: CO2-neutrale Fahrzeuge ab 2026 verpflichtend für die Zulassung von Carsharing-Flotten.
  • Klare Ausweisung beim Autokauf: Die Energieverbrauchskennzeichnung beim PKW („Klima-Label“) wird reformiert, die Belastung über den Lebenszyklus des Fahrzeuges durch die CO2-Bepreisung sowie die Kfz-Steuer soll deutlicher werden
  • ÖPNV besonders am Land will man ausbauen, ebenso Radwege, alternative Antriebe bei Schienenfahrzeugen fördern
  • Für Luft- und Seeverkehr will man erneuerbare Energien und die Elektrifizierung unterstützen, etwa durch Land- und Bodenstrom für Schiffe und Flieger

Allerdings: Den Widerspruch muss man noch auflösen, wie man den Aus- und Neubau von sage und schreibe 144 Autobahnprojekten auf knapp 1.000 Kilometern (die DUH spricht von "Horrornachrichten") finanzieren will, die von nun an von "überragendem öffentlichen Interesse" sein sollen, wenn 80 Prozent der Mauteinnahmen in den Ausbau des maroden Schienennetzes fließen sollen, 45 Milliarden Euro bis 2027, unter anderem für die Digitalisierung im Personen- und Güternetz. Kleiner Rettungsanker der Grünen: Die Projekte sollen nur realisiert werden, wenn es die Bundesländer denn auch wollen.

Photovoltaik als Feigenblatt neben der (neuen) Autobahn

Dass man die Neubauttrassen dann mit Photovoltaikanlagen flankieren will, ist wohl nicht mehr als das "grüne Feigenblatt" auf Projekte, die etwa in Österreich nach dem dort eingeführten, strikt wissenschaftsbasierten Klimacheck im Verkehrsbereich wohl keine Chance mehr hätten. Woher die Koalition dann die reklamierten Ausgleichsflächen für Infrastrukturprojekte nehmen will, bleibt ein Geheimnis. Deutschland ist schon heute ein höchst versiegeltes Land, konkret und vor Ort erweist sich die Schaffung von Ausgleichsflächen häufig als Augenwischerei. Durch Geldzahlungen soll für Straßenbau kompensiert werden können, mit denen dann größere und zusammenhängende Flächen gekauft werden. Nur wo, ist die Frage. Naturschützer loben immerhin dieses Prinzip, größere und qualitätvollere Naturflächenverbünde zu schaffen. Im Idealfall enstünde ein "länderübergreifender Biotopverbund". Wenn es gelänge, so 30 Prozent der Flächen unter "wirksamen Schutz zu stellen", meint Greenpeace-Chef Martin Kaiser, würde der Naturschutz auf "ganz neue Füße gestelt". Wie auch immer.

Das Prinzip Priorisierung ist auch schräg interpretiert: Denn jetzt sollen anders als im Koalitionsvertrag vereinbart, bei Schiene UND Straße das Tempo bei Infrastrukturprojekten erhöht werden. Die Gefahr ist: Wer alles priorisiert, bekommt am Ende nichts realisiert. Gleichzeitig mit dem Bonus für die Bahn auch die Autobahn zu beschleunigen, sei jedenfalls alles andere als eine Verkehrswende, kritisiert Kemfert. Da nütze es auch nichts, neben neuen Autobahnen Photovoltaikanlagen zu bauen. "Ein Salatblatt im Burger ist keine Ernährungsumstellung", brachte sie gegenüber der SZ auf den Punkt. Die Straßenbauämter klagen jetzt schon über Projektstau, Bau- und Handwerker sind fast schon eine Rarität. Die praktische Umsetzung dieser Beschlüsse wird jedenfalls noch schwierig werden.

Der größte Kritikpunkt von Umweltschützern: Die Koalition lockert die von der Vorgängerregierung hinterlassenen Klimaschutzregeln auf und lässt bei Überschreitung in einem Sektor die Anrechnung über mehrere Jahre sowie die Kompensation durch andere Sektoren zu. "Sektorübergreifende und mehrjährige Gesamtrechnung", heißt das dann verbrämend. Greenpeace nennt das eine "Entkernung" des Klimaschutzgesetzes und spricht von einem teilweisen Rückschritt durch den "Ampel-Marathon". Claudia Kemfert hält die "Aufweichung der Sektorziele für problematisch, da sie den Verkehrssektor aus der Verantwortung entlässt".

"Die notwendige Verkehrswende wird so nicht erreicht werden. Auch die Klimaziele werden so nicht erreicht", kritisiert sie.

Die Industrie oder der Energiesektor werden sich bedanken, wenn sie für die fortgesetzte "Unterlassung von Klimaschutz" im Verkehr geradestehen soll. Prompt freut sich der Verkehrsminister, dessen Versetzung gerade noch gefährdet war: "Wir sorgen dafür, dass sich Sektoren helfen können" und es seien "Fesseln gelöst" worden.

Wissing darf sich nicht ausruhen

Wobei auch hier Zustimmung von Ökonomin Grimm kommt: Die intersektorale Flexibilität sei eine gute Sache, sofern die Emissionsreduktionsziele eingehalten werden. Sie mahnt allerdings an, dass Flexibiliiserung nicht dazu führen dürfe, dass der Emissionshandel für Verkehr und Wärme später als 2026 scharf gestellt werde. Besser wäre sogar früher, meint Grimm, und fordert ein klares Signal von der Regierung. Zu sicher sollte sich Wissing auch nicht wähnen, schließlich liegt er bereits sei zwei Jahren hinter den Zielen zurück. Geht das noch länger so, mutmaßt Ökonom Jens Südekum von der Uni Düsseldorf: "Spätestens dann wird er einem Tempolimit wohl zustimmen müssen"

Immerhin: Die Koalition erwähnt einen Punkt, der bisher viel zu kurz kommt: Energie müsse künftig viel effizienter eingesetzt werden, um den Verbrauch zu reduzieren und die Unabhängigkeit von fossilen Importen zu erhöhen. Dafür will die Regierung ein "Energieeffizienzgesetz" schaffen, dessen Ausgestaltung aber noch sehr vage ist.

Und anders als bei Umweltschützern kommt das Papier generell unter Ökonomen nicht so schlecht weg: Es enthalte "sinnvolle Maßnahmen, die bisweilen unspektakulär, technokratisch, fast dröge daherkommen, die aber für effektiven Klimaschutz umso wichtiger sind" und keine "großen Summen ins Schaufenster" stelle, kein "schuldenfinanziertes Großpaket" meint etwa VWL-Professor Südekum von der Uni Düsseldorf gegenüber dem Spiegel. Kein großer "Klimawumms" vielleicht, aber eine Vorlage, die nicht den leichten Weg wähle und die "mühevolle Strukturreform", in vielem ein Kompromiss.

Die Weltenformel nicht gefunden

So bleibt am Ende der Eindruck eines ziemlich langen und komplizierten "Alles und nichts"-Papiers, das irgendwo jedem etwas bietet und reichlich Platz für Rosinenpickerei lässt. Der große "Klimawumms" ist es definitiv nicht. Eher ein Spiegel der Gesellschaft, in denen 85 Prozent der im Parlament vertretenen Parteien, wie die Grünen nicht müde werden zu betonen, im Bestfall moderaten oder ganz rechts außen am liebsten gar keinen Klimaschutz wollten, weil es ja die Klimakrise gar nicht gibt. Dass das Papier den Konflikt in der Koalition befriedet, darf man bezweifeln - und die Grünen fordern prompt am nächsten Tag Nachbesserungen und Präzisierungen.

Die Koalition mutiert so immer mehr zu einer sozial-liberalen Regierung, mit den Grünen als Anhängsel, sobald es mit dem Klimaschutz ans Eingemachte geht.

"2 zu 1" sei oft die Gefechtslage in den Gesprächen gewesen. Ob das nicht langfristig zu viel größeren "Überforderungen" führt, ist die große Frage. Mit der dürfen sich aber die nachfolgenden Regierungen und Generationen herumschlagen. Länger als 49 Stunden Ausschusssitzung. "Die Weltformel haben wir jetzt noch nicht gefunden", meinte auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Aber einen klaren, politischen Rahmen, in dem man sich bewegen könne. Hoffen wir mal das Beste. Denn die Hoffnung stirbt ja zuletzt.

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