Mobilitätsgipfel im Kanzleramt: Eine Wende ist mehr als E-Autos
„Erstes Spitzengespräch der Strategieplattform Transformation der Automobil- und Mobilitätswirtschaft“ lautet der offizielle Titel der am 10. Januar auf Einladung des Bundeskanzlers Olaf Scholz stattfindenden Veranstaltung. Im Fokus stehen sollen laut Bundeskanzleramt die zentrale Herausforderung, das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen und gleichzeitig, die Wertschöpfung und Beschäftigung in Deutschland zu erhalten. Bereits vor dem Treffen erhoben zahlreiche Branchenverbände ihre Stimmen und forderten ein Mobilitätskonzept, das das große Ganze im Blick behält.
Der von Bundeskanzler Olaf Scholz einberufene „Mobilitätsgipfel“ ist aus Sicht mehrerer Fahrrad- und Verkehrsverbände ein Beleg dafür, dass die Verkehrswende noch nicht im Kanzleramt angekommen ist. Dass es bei dem Treffen zwar laut Ankündigung um die Transformation der Mobilitätswirtschaft gehen soll, aber fast ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter der Automobilbranche eingeladen sind, kritisieren etwa die Allianz pro Schiene, der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC), der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und Zukunft Fahrrad. Dies steht aus Sicht der Verbände für ein völlig veraltetes Mobilitätsverständnis. Sie fordern von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Verkehrswende als Ganzes anzugehen und zur Chefsache zu machen.
Der Präsident des BEM, Bundesverband eMobilität e.V., Kurt Sigl, kritisiert, "Ängste um den Industriestandort kämen reichlich spät" und warnt, dass alte Rezepte nicht weiterhelfen.
"Aber China ist längst da und liefert die eAutos, die wir für die Klimaziele brauchen. Es wird höchste Zeit, das gesamte Angebot deutscher Fahrzeugindustrie vom Leichtfahrzeug, über Fahrräder und Bikes bis zum eTruck ins Visier zu nehmen und hier deutsche Arbeitsplätze und umweltschonende Technologie nachzufragen. Dann besteht vielleicht noch die Chance, Leitmarkt zu werden. Allerdings müssen dazu Politik und Behörden konstruktiv mitmachen, was allein durch das Set-up des heutigen Gipfels angezweifelt werden darf“, kritisierte der Verbandschef.
Der Präsident des Zentralverbands Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe (ZDK) Jürgen Karpinski wiederum fordert langfristig stabile Rahmenbedingungen im Bereich der Elektromobilität.
"Die Diskussion um den Umweltbonus hat die Kunden sehr verunsichert. Wer den schnellen Umstieg auf die E-Mobilität will, darf die Förderung batterieelektrischer Fahrzeuge derzeit nicht kappen. Wir brauchen langfristig verlässliche Förderbedingungen und einen beschleunigten Ausbau der Ladeinfrastruktur, sonst leidet das Vertrauen der Kunden," so Karpinski.
Bei einem beschleunigten Umstieg auf E-Fahrzeuge solle ihm zufolge die Kundenperspektive im Vordergrund stehen, die Politik sollte Wert legen auf die praktischen Erfahrungen des mittelständischen Kfz-Gewerbes. „Das Kfz-Gewerbe ist ein zentraler Faktor der Transformation hin zu einer CO2-neutralen Mobilität, so die Meinung des ZDK-Präsidenten.
Technologie-Offenheit
ZDK-Hauptgeschäftsführer Kurt-Christian Scheel betont vor dem Hintergrund des großen Fahrzeugbestandes und der vielfältigen Herausforderungen rund um die Transformation - von Energiekosten bis Lieferkettenengpässen - die Bedeutung der Technologieoffenheit. Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Abgasnorm Euro 7 werde seiner Meinung nach wegen technisch kaum erfüllbarer Anforderungen dazu führen, dass Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren deutlich teurer werden. Gleichzeitig würden jedoch die Preise für Elektrofahrzeuge nicht wie erwartet sinken.
"Deswegen sollte Euro 7 deutlich modifiziert werden und vor allem endlich ein Vorschlag auf den Tisch, wie auch nach 2035 Neufahrzeuge mit Verbrennungsmotor zugelassen werden können, die mit CO2- neutralen Kraftstoffen betrieben werden. So ist es im Koalitionsvertrag vorgesehen. Und so können wir die Erwartungen unserer Kunden erfüllen, die sich eine nachhaltige und bezahlbare individuelle Mobilität wünschen", meint Scheel.
Gemeinsam mit der Industrie
Zahlreiche Forderungen bringt auch der CSU-Europa-Abgeordnete und wirtschaftspolitische Sprecher der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament Markus Ferber ins Rennen. Er kritisiert eine falsche Prioritätensetzung der Ampel-Regierung.
„Mehr als ein Jahr nach seinem Amtsantritt als Kanzler bestellt Olaf Scholz die führenden Akteure der Automobilindustrie zu einem Treffen ins Kanzleramt ein“, so Ferbers Meinung, und fügt hinzu: „Man muss noch nicht einmal zwischen den Zeilen lesen, um zu begreifen, dass die Prioritätensetzung hin zur klimaneutralen Mobilität eindeutig zu wünschen übriglässt. Ein Autogipfel ist längst überfällig, denn die bevorstehende Transformation kann nur zusammen mit der Industrie gemeistert werden“, betont er.
Klarheit statt Zwist und Schlingerkurs
Ferbers Ansicht nach hätten Dissens und Dauerstreit zwischen Minister Wissing und Vizekanzler Habeck bei der Transformation des Mobilitätssektors behindert. Auf nationaler und europäischer Ebene fehle der Ampel-Regierung eine klare Strategie für die Zukunft des Verkehrssektors.
„Statt Geradlinigkeit und Planungssicherheit, stellen vielmehr Schlingerkurs und Streit die Konstanten von Kanzler Scholz und seinem Team dar. Es wird Zeit, dass die Transformation des Verkehrssektors nicht mit Ideologien überfrachtet, sondern mit industriepolitischer Weitsicht angegangen wird“, mahnt Ferber.
Dieser Dissens habe sich auch bei den Verhandlungen zum Verbrennerverbot gezeigt mit der Folge immenser drohender Arbeitsplatzverluste. „Nicht weniger als 500.000 Arbeitsplätze stehen durch ein Verbrennerverbot auf dem Spiel“, bemängelt der CSU-Europaabgeordnete.
Keine Einbahnstraße
Eine politische Strategie sei notwendig, die Planungssicherheit und zugleich Technologieneutralität biete. „Der Automobilsektor ist eine der Schlüsselbranchen Deutschlands und damit der EU - setzen wir hier alles auf eine Karte, so wie es Grüne und Linke auf nationaler und europäischer Ebene fordern, so spielen wir industriepolitischen Poker. Das können und sollten wir nicht leichtfertig riskieren“, fordert Ferber. Er spricht von einer Einbahnstraße der Ampel-Regierung in Richtung E-Mobilität und betont den dringend notwendigen Ausbau der umfassenden, europaweiten, verlässlichen sowie benutzerfreundlichen Ladesäuleninfrastruktur.
„Sonst hat das Team um Kanzler Scholz Deutschlands Automobilbranche mit der ‚All-In‘ Strategie ins industriepolitische Nirvana befördert“, formuliert Ferber.
Multimodale Mobilität gefordert
Vorwürfe der Einseitigkeit fielen auch von Seiten der Umweltverbände, allerdings aus anderen Gründen. Der BUND und der ökologische Verkehrsclub VCD beispielsweise sehen beim Mobilitätsgipfel einige Positionen sowie Verkehrswege von vornherein nicht einbezogen. Kerstin Haarmann, VCD-Bundesvorsitzende, spricht gar von „Etikettenschwindel“. Am Treffen des Bundeskanzlers zur Transformation der Automobilwirtschaft würden mehrheitlich Vertreter der Automobilbranche teilnehmen.
„Dies einen Mobilitätsgipfel zu nennen, ist anmaßend“, zeigt sich Haarmann erbost. „Das ist so, als würde man einen Sportlergipfel einberufen und nur Fußballer:innen einladen. Es reicht auch nicht, die Veranstaltung mit einigen Vertreter:innen aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft – quasi als Linienrichter – zu garnieren; um Weichen für die Mobilität der Zukunft zu stellen, sind breitere Besetzungen nötig“, kritisiert die VCD-Bundesvorsitzende.
Die Zukunft der Mobilität ist Haarmann zufolge vernetzt sowie multimodal. Diese stütze sich auf den öffentlichen Verkehr mit Bus, Bahn, Sharing-Angeboten sowie Rad- und Fußverkehr. Eine klimaschützende Verkehrswende gelinge nur unter Einbezug dieser Branchen und böte gleichzeitig viele neue Arbeitsplätze. Haarmann sieht massiven Entscheidungs- und Veränderungsbedarf: Bus und Bahn brauchen ihrer Meinung nach Priorität und Investitionen, mehr Digitalisierung und schnellere Planung. Die Antriebswende vom Verbrenner zum E-Fahrzeug sei nur ein einziger Baustein in der Verkehrswende, der einige Probleme löse, jedoch zugleich neue bereite.
BUND: Technologie allein wird uns nicht retten
Auch der BUND zeigte sich bereits vorab unzufrieden ob des Settings des Mobilitätsgipfels. Antje von Broock, Geschäftsführerin beim BUND, zufolge sei nach den Autogipfeln der Vergangenheit ein Neustart notwendig – und ein „ Mobilitätsgipfel, der diesen Namen verdient“. Angesichts der Erderhitzung seien vordringlich Maßnahmen zu beraten, mit denen Deutschland die im Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG) verbindlich festgeschriebenen Sektorziele für den Verkehrsbereich einhalte. Diese Maßnahmen dürften aber laut von Broock nicht nur technische Lösungen für den Automobilverkehr sein, sie müssten über den reinen Antriebswechsel hinausgehen und auch die Mobilität mit mehr Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr ermöglichen.
Und die Schiene?
Auch Bahnverbände fühlen sich angesichts des Mobilitäts-Gipfels außen vor. Die Allianz pro Schiene sieht das Treffen als Zeichen eines veralteten Verkehrskonzepts. Die Verkehrswende sei dem Verband zufolge noch nicht im Kanzleramt angekommen. Auch wenn es laut Ankündigung offiziell um die Transformation der Mobilitätswirtschaft gehen sollte, seien fast ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter der Automobilbranche eingeladen.
„Was früher einmal Autogipfel genannt wurde, hat jetzt ein neues Label bekommen – die Inhalte sind aber die alten“, moniert der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene Dirk Flege.
Er spricht von einer falsch verstandenen Verkehrswende und davon, das Kanzleramt denke die Transformation der Mobilitätswirtschaft nicht im Großen und Ganzen. Die Verkehrswende sei laut Flege mehr als eine Antriebswende beim Auto. Man dürfe die einzelnen Verkehrsmittel nicht isoliert voneinander betrachten, sondern müsse das große Ganze im Auge behalten.
Ohne Bike keine Wende: Verkehrs- und Radwegenetze ausbauen
Zu Wort meldeten sich auch Fahrradverbände. Sie fordern, das Radwegenetze auszubauen die Fahrradförderung anzuschieben. Der Bund müsse das Straßenverkehrsrecht so reformieren, dass Kommunen schnell Radwege bauen können.
„Der Verkehrssektor steht wegen seiner gerissenen CO2-Einsparziele unter Druck. Drängender kann Handlungsbedarf nicht sein. Fahrradförderung wirkt schnell und ist kosteneffizient. Es ist Pflichtprogramm, jetzt alles aus dem Fahrrad rauszuholen. Mehr als die Hälfte aller Alltagswege lassen sich mit dem Rad machen, das Einsparpotenzial ist enorm. Wir können uns die einseitige fiskalische, wirtschafts- und verkehrspolitische Fokussierung auf das Auto nicht mehr leisten. Ohne uns gibt es keine Verkehrswende“, appellierte Wasilis von Rauch, Geschäftsführer Zukunft Fahrrad, die auch mit einer Protesttour mit dem E-Cargobike durch das Regierungsviertel die einseitige Ausrichtung des Gipfels kritisierten.
Aus Sicht von Burkhard Stork, Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV) werde die Umstellung auf E-Autos und sinkende Autonutzung zu weniger Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie führen. Studien zeigten aber schon lange, dass es in der modernen Mobilität künftig mehr Arbeitsplätze als bisher geben wird.
"Ein Baustein ist die Fahrradwirtschaft. Allein die Läden und Werkstätten melden aktuell einen Bedarf von 15.000 Mitarbeitenden, hinzu kommen Herstellung von Fahrrädern und die massiv wachsenden Dienstleitungsbereiche. Aber wenn der Kanzler nur mit den Autokonzernen redet, werden diese Möglichkeiten nicht vorkommen", kritisierte Stork.
Die Bundesvorsitzende des ADFC, Rebecca Peters sieht die "Mär von der Auto-Abhängigkeit" am Ende. Die Menschen seien längst bereit, für kürzere Strecken das Auto stehen zu lassen und das Rad zu nehmen. Nur gebe es nicht genügend Radwege in Deutschland.
"Dabei kann der Ausbau der Radwegenetze ganz schnell gehen, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen. Der Bund muss endlich das Straßenverkehrsrecht so reformieren, dass Kommunen schnell Radwege bauen können. Der Bundeskanzler muss das anschieben, denn Minister Wissing will eher den Autobahnausbau als den Radwegeausbau beschleunigen", forderte Peters.
Und Ronald Bankowsky, Gründer und Geschäftsführer der Plattform Steig.Um.de kritisiert, dass laut Koalitionsvertrag die Mobilitätswirtschaft zwar als Ganzes betrachtet werden sollte.
"Doch der sogenannte Mobilitätsgipfel zeigt, dass dies nur ein Lippenbekenntnis war. Es ist ein Autogipfel, der andere Verkehrsbereiche ausklammert. Wir werden von der Politik angeblich gehört, aber es ist höchste Zeit, auch wirklich ins Gespräch zu kommen", mahnt der Bike-Botschafter.
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