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Lesung Katja Diehl Auto Korrektur: "Wir sehen den Wald vor lauter Autos nicht"

Bei einer Lesung mit der Bloggerin und Autorin des Werks "Auto-Korrektur" wird klar, dass speziell in Deutschland und bevorzugt Männern Fantasie fehlt, wie eine Welt jenseits der "Auto-Mobilität" aussehen könnte. Für eine Verkehrswende brauche es Politiker, die sich "hassen lassen", um danach umso "beliebter" zu sein, wie nicht nur das Beispiel Paris zeigt. Und: Zukunft der Mobilität ist jetzt!

Mehr Tempo bei der Wende: Autorin und Bloggerin Katja Diehl kam auf Einladung von MdL Dr. Markus Büchler in den Bayerischen Landtag. Der nutzte die Gelegenheit gleich für ein "product placement" für den Radentscheid Bayern, der aktuell im Freistaat läuft und den Radverkehr besser und sicherer machen will. | Foto: B90/DIE GRÜNEN/F. Norden
Mehr Tempo bei der Wende: Autorin und Bloggerin Katja Diehl kam auf Einladung von MdL Dr. Markus Büchler in den Bayerischen Landtag. Der nutzte die Gelegenheit gleich für ein "product placement" für den Radentscheid Bayern, der aktuell im Freistaat läuft und den Radverkehr besser und sicherer machen will. | Foto: B90/DIE GRÜNEN/F. Norden
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Johannes Reichel

Auf den Shitstorm folgt der "Lovestorm" - witzelt Katja Diehl, Bloggerin von "She drives Mobility" und Autorin des für sie selbst "erstaunlich stark nachgefragten" Buchs "Auto-Korrektur - Mobilität für eine lebenswerte Welt" (ein Spiegel-Bestseller) gleich zu Beginn ihrer Lesung. Das könnte stimmen, schließlich rennt sie bei dem abendlichen Vortrag auf Einladung der Landtagsfraktion der bayerischen Grünen und ihres Sprechers für Mobilität Markus Büchler tendenziell offene Türen ein in Sachen Verkehrswende - und erhält eingangs wie ausgangs herzlichen Applaus. Was sie dagegen tagsüber so an "Ablehnung" für ihre Denkanstöße über sich ergehen lassen muss, ist oft wohl weniger witzig, liest man da zwischen den Zeilen. Und zwar dafür, dass sie der "automobilen" Gesellschaft ziemlich direkt und "ungeschminkt" den Spiegel vorhält, wie sie es auch in ihrem Buch tut. Dafür wird man dann schon mal als "menschenverachtend" oder "Autohasser" diffamiert, wie Diehl erzählt. Sie bleibt lieber sachlich:

"Unser Land hat in Sachen Verkehrswende kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Das fängt in den Häusern gewisser Ministerien an und endet am Frühstückstisch privater Haushalte. Die größte Herausforderung liegt nicht in der Technik, die ist meiner Meinung nach vorhanden. Alles, was wir benötigen, liegt wie in einem bunten Kasten voller Bausteine vor uns, wir müssen uns nur die Mühe machen, diese zu sortieren und entsprechend den einzelnen Bedürfnissen neu zusammenzustecken, damit eine Mobilität entsteht, die wahlfrei, barrierefrei, inklusiv und klimaschonend ist", lautet ein zentrales Zitat aus ihrem Buch.

Die 49-jährige Hamburgerin Diehl, die auf lange Konzernerfahrung etwa bei Hellmann Logistics, den Stadtwerken Osnabrück oder dem On-Demand-Spezialisten door2door verweist, trifft mit ihrem Werk, das viele persönliche Gespräche und Begegnungen aus der Welt der Mobilität und speziell mit Autofahrern nachzeichnet und bei allem Ernst des Themas durchaus amüsant oder besser süffisant darstellt, offenbar einen Nerv - und nervt viele damit. Sie lasse jetzt immer Fachmänner erklären, warum man zur Einhaltung der Klimaziele in drei Jahren eigentlich aufhören müsste, Verbrennerautos zu fahren, ihr als Frau werde das nicht geglaubt, schiebt sie einen weiteren Scherz nach, der schmunzeln lässt, aber eben auch schockiert, im Jahr 2022.

Viele kennen nur "Auto-Mobilität"

Abgesehen von der Tatsache, dass ihr im Bereich der Mobilität, sei es nun bei Autokonzernen, ÖPNV-Betrieben oder auf Konferenzen und Symposien primär Männer mittleren Alters begegnen, zeigte sie sich ernüchtert, dass viele nur "Auto-Mobilität" kennen. Der Typus sei ihr im Prinzip aber auch auf Messen wie der "Eurobike" begegnet, wo dann nicht selten die Anreise zum Radspot per Van oder SUV thematisiert werde. Es sei eine "konforme Mobilität von Männern", die unseren Verkehr dominiere und bis in die Gestaltung der Städte hinein strukturiere. Auf ein Kind kämen in Deutschland statistisch betrachtet fünf Autos, der Stadtraum sei für Kinder kein Erlebnisraum, auf dem man spielend lernen könne, sondern ein möglichst zu meidender Gefahrenort, die Angst der Eltern übertrage sich auf ihre Kinder. Straßen seien heute so gut wie "unbespielbar". 26 Millionen Menschen in Deutschland hätten eben keinen Zugriff auf ein Automobil, weil sie zu jung sind oder gar keinen Führerschein hätten. Die fielen völlig durchs Raster, monierte sie.

"Die aktuelle Autonutzung bringt einigen Menschen sicher die Mobilität, die sie ohne Auto nicht abbilden können. Zu vielen Menschen, die nicht im Auto sitzen, bringt sie jedoch enorme Nachteile. Radfahrer:innen und Fußgänger:innen schickt die autogerechte Stadt offen in Konflikte und überlässt ihnen die Lösung derselben selbst", analysiert Diehl in ihrem Werk.

Gewachsen im patriarchalen System

Das gesamte Verkehrssystem sei in der Vergangenheit analog dem patriarchalen System, in dem wir leben, von einer Gruppe von Personen gestaltet: männlich, weiß, cis, hetero-sexuell und wohlhabend. Das so entstandene Muster bestehe bis heute fort. Weil es auch in der Gesellschaft fortbesteht, resümiert Diehl in ihrem Buch. Und blickt auch zurück auf die Historie vieler Autohersteller, die mit Fahrrädern angefangen hatte wie Opel, Peugeot oder Dodge, für Diehl auch ein "Symbol feministischer Mobilität", weil es Frauen früh die Möglichkeit gab, ebenfalls mobil zu sein, etwa auch bei Suffragetten-Kampagnen.

"Letztlich sorgte das Auto für die Abschaffung der »Shared Spaces« – öffentlicher Räume ohne Unterteilung in Verkehrszo - nen. Weil die Verletzungsgefahr für Fußgänger:innen zu hoch wurde. Der gemeinsam genutzte Raum in Städten wurde zu - gunsten eines einzigen Verkehrsmittels aufgegeben, damit en - dete auch die Demokratie auf der Straße. Es wurde stattdessen eine Hierarchie eingeführt, die das Auto priorisierte. Mit den Nazis wurde das Ziel der Volksmotorisierung ausgerufen", schreibt Diehl in ihrem Buch. Die autogerechte Stadt nahm spätestens in den 60er-Jahren Fahrt auf.

Der dicke Dienstwagen als (männliches) Ideal der Mobilität

In den Konzernen dominiere noch immer das Ideal des "dicken Dienstwagens", stattdessen eine "Bahn-Card 100" zu bevorzugen, sei nach ihrer eigenen Erfahrung nicht vorgesehen. Überhaupt: Auf Konferenzen werde immer die Zukunft der Mobilität thematisiert und meist in einem Horizont von 15 Jahren. "Nur, wann geht das eigentlich endlich los - und sollten wir nicht endlich mal anfangen mit der Mobilität der Zukunft", fragt sie rhetorisch. Und die sieht sie eher nicht als "Auto-Mobilität". Sie fordert, wie der Titel ihres Buches so schön wortspielt: Eine Auto-Korrektur.

"Jede:r sollte das Recht haben, ein Leben ohne ein eigenes Auto führen zu können", lautet die zentrale Maxime ihres Werks und ihr Credo.

Hier verwies die Autorin auch auf die Tatsache, dass der ÖPNV in Relation zum Auto in der Energiekrise bereits deutlich teurer geworden sei als das Auto. Statt sich in Zukunftsprojekte wie Hyperloops oder Flugtaxis zu stürzen, die nur neue Probleme schaffen würden und kaum welche lösen, sollte lieber der ÖPNV ausgebaut werden. Es sei doch alles schon da.

Niemand würde am begrünten Seine-Ufer wieder Parkplätze bauen

Für das Werk hat sie auch per Interrail zahlreiche Städte, auch europaweit bereist, allem voran natürlich die Vorzeigemetropole für Verkehrswende-Angelegenheiten Paris. Das Problem speziell der deutschen Politik sei: Es geht keiner voran. Und es geben keine Politiker mit einer Vision, für die sie sich am Anfang erstmal "hassen lassen" müssten, wie etwa Anne Hidalgo in Paris und die im ersten Moment riesige Widerstände auslöst. Nun aber, da viele Bürger*innen die Vorzüge eines autofreie Seine-Ufers sehen würden, käme niemand mehr auf die Idee, hier Parkplätze zu schaffen, führte sie exemplarisch aus. Das Ideal der 15-Minuten-Stadt werde nach der Wiederwahl der Politikerin und erst recht getrieben durch die Pandemie konsequenter umgesetzt, sodass "Auto-Mobilität" erst gar nicht entsteht, weil man vieles vor Ort erledigen könne. Ziel sei ein "Mosaik von Quartieren, eine Großstadt mit Dorfqualität", Paris habe bereits 168 Schulstraßen mit Autoverbot umgesetzt. Nebenbei öffne man die Schulhöfe an Nachmittagen für die Öffentlichkeit, um mehr Aufenthaltsmöglichkeiten zu schaffen.

Doppelter Nutzen: Lebenswerte und klimaresiliente Städte

Flankiert wird das alles mit massiver Begrünung und der Schaffung neuer Parks statt Parkplätzen, womit sich die Notwendigkeit zum Klimaschutz mit der Notwendigkeit lebenswerterer Städte überschneide. Die Grundformel laute: Zwei Kilometer gehen zu Fuß, sieben Kilometer per Rad. Da fielen viele Wege, für die ein Auto notwendig sein könnte, schon mal weg. Auch in Barcelona wurde die Mobilitätsexpertin vorstellig und verwies auf den ehrgeizigen Plan, 500 Superblocks mit starker Autoreduzierung zu schaffen und das Ziel, die erste "postautomobile" Metropole der Welt zu werden. Und das trotz des enormen Zuzugs, der natürlich im ersten Moment auch mehr Autos mit sich brächte. 

"Wir sehen den Wald oder den Strand vor lauter Autos nicht", appelliert sie an die Fantasie, sich eine lebenswertere Stadt vorzustellen. Die Vorteile von weniger Automobilität in Stadt, aber auch am Land würden viel zu wenig gesehen und kommuniziert.

Stattdessen werde noch immer das Ideal des "Autos als Freiheitsmittel" beschworen und dabei ausgeblendet, dass es kein "egoistischeres" Verkehrsmittel als das Auto gebe, das für die Beförderung viel zu oft nur einer einzelnen Person so viel Raum beanspruche und für die nichtmotorisierten Verkehrsteilnehmer zudem eine enorme Gefahrenquelle darstelle.

"Im Auto begegnet man sich nicht, man fährt aneinander vorbei", verwies sie zudem auf einen sozialen Aspekt, der etwa bei On-Demand- und Ride-Pooling-Services greife, weil man mit wildfremden, aber zielgleichen Personen ein Fahrzeug teile.

Und wenn man über "autonomes Fahren" der Zukunft rede, dann sollte man den "mobilen Männern" klarmachen, dass es sich bei allem "Car2X" der Zukunft um eine andere Form des öffentlichen Nahverkehrs handeln müsse, nicht etwa "motorisierten Individualverkehr" auf autonom. Auch mit der Mär von der "Technologieoffenheit", die nur der Verzögerung der Wende diene, räumte sie gründlich auf und forderte mehr Tempo von der Politik, der man nötigenfalls mithilfe von Klimaklagen auf die Sprünge helfen müsse. Schließlich seien die Klimaziele fixiert und verpflichtend.

Vier wesentliche Punkte zählt Diehl auf, damit "klimagerechte" Mobilität sich durchsetzen könne:

  • Es muss ein gutes Angebot vorhanden sein.
  • Es muss barrierefrei sein - und das meint Diehl nicht nur im Sinne von rollstuhl- und kinderwagentauglich, sondern eben auch für jeden per App oder Telefon zugänglich und gut nutzbar und erreichbar
  • Es muss sicher sein
  • Es muss bezahlbar sein

Dann würden viele der Leute, mit denen sie gesprochen habe, auch auf das Auto verzichten, sobald sie die Freiheit der Wahl hätten. Ihre empirische Einschätzung ist, dass 80 Prozent mit dem Auto mobil sein müssten - und das in den seltensten Fällen selber wollten. Sie spüre eine große Bereitschaft, sich "klimagerecht" fortzubewegen, die von der Politik bedient werden müsse.

Wenig politische Bereitschaft an der Spitze

Hier zeige sich allerdings wenig Veränderungsbereitschaft: Vom Übergang von Andreas Scheuer (CSU) auf Volker Wissing (FDP) zeigte sich Diehl ebenso ernüchert wie der Gastgeber Dr. Markus Büchler. Der berichtete aus der politischen Praxis des CSU/Freie Wähler (oder weiter rechts außen) und von gesetzen Herren dominierten Landtags von schablonenartigen Argumenten mit dem Tenor und Niveau: Man düfe es jetzt auch nicht übertreiben mit Radwegen und ÖPNV, der Maler komme nun mal nicht mit dem Bus und das Auto sei nun mal ein "urdemokratisches Verkehrsmittel". Viele würden als Mobilität ausschließlich "Auto-Mobilität" verstehen, bestätigte Büchler auch Diehls Eindruck aus den Konzernen. So sei die Lage.

Straßenverkehrsordnung = Autoverkehrsordnung

Und die Straßenverkehrsordnung sei im Grunde eine "Autoverkehrsordnung", die dringend der grundlegenden Reform oder Neufassung bedürfe. Ein wenig Hoffnung mache ihm die jüngste Novelle, mit der die "Vision Zero" bei den Verkehrstoten vorne weg im Gesetz installiert worden sei. Und diese Vision lasse sich nur mit weniger Autos und Maßnahmen wie Tempo 30 sowie mehr Radverkehr, den man jetzt auch mit dem Volksbegehren "Radentscheid Bayern" und einem angestrebten Radgesetz herbeiführen will, realisieren. Katja Diehl bekräftigt das:

"Jährlich sterben Tausende Menschen im Straßenverkehr, täglich werden an die acht Leben in Deutschland genommen, jeder einzelne Tod traumatisch für über hundert Personen, von Ersthelfer:innen über Klinikpersonal hin zu Angehörigen und Freund:innen. Unser Wertesystem, das ansonsten ganz gut funktioniert, setzt beim Auto aus. Die tödlichen und anderen belastenden Folgen dieser Verkehrsform werden hingenommen – wenn wir das nicht täten, müssten wir viel zu viel ändern. Wir müssten die Gleichberechtigung auf der Straße wiederherstellen – und das ginge zu Lasten der umfassenden Privilegien des Autos", heißt es in ihrem Werk.

Mal sehen, ob sich die Bundespolitik auch an ihre eigenen Gesetze hält - und den "Shitstorm" dann auch durchsteht, der bei einschneidenderen Verkehrswendemanövern im "Autoland Deutschland" sicher nicht auf sich warten ließe.

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