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Meinungsbeitrag

Grüner Parteitag: Ökosoziale (Verkehrs)Wende - für eine neue Fossil-Scham

Statt Verbote geht es um Gebote - und um das, was "geboten" ist, um die Klimakrise noch in den Griff zu bekommen. Statt den Wahlkampf nach üblichem Schema fortzusetzen, braucht es einen Wettstreit der Ideen und eine positive Vision von einer nachhaltig organisierten Gesellschaft, die die Ökowende mit sozialem Ausgleich verknüpft.

Sommer des Ringens um die besten Ideen: Der politische Geschäftsführer der Grünen, Michael Kellner, motivierte die eigenen Leute, appellierte aber auch an die politische Konkurrenz, einen konstruktiven Wettbewerb zu führen. | Foto: Screenshot
Sommer des Ringens um die besten Ideen: Der politische Geschäftsführer der Grünen, Michael Kellner, motivierte die eigenen Leute, appellierte aber auch an die politische Konkurrenz, einen konstruktiven Wettbewerb zu führen. | Foto: Screenshot
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Johannes Reichel

Viel ist ja derzeit davon die Rede, dass Mobilität auch für die "kleinen Leute" erschwinglich bleiben muss. Gegenthese auf die Schnelle: Wenn die "großen und mittelgroßen Leute", sprich alle, die es sich leisten könnten, schon mal ein umweltfreundliches Fahrzeug wählen würden, wäre auch schon viel geholfen. Doch fährt man durch die noblen oder auch "otto-normalen" Vororte dieser Republik, stehen das viel zu oft noch gutmotorisierte Verbrenner in den Doppelgaragen oder Carports, vorzugsweise auch auf der Straße, weil die Autos nicht mehr in Garagen passen.

Auch am "platten Land" wird oft jeder noch so kurze Weg mit dem Verbrenner absolviert, obwohl man längst seine eigene kleine Verkehrs- UND Energiewende vollziehen könnte, mit Photovoltaik, Pufferspeicher und allem, was zur Sektorkoppelung dazugehört. Oder man nimmt halt das S-Pedelec für den sonst etwas weiten Weg. Oder bestellt per App ein immer weiter verbreitetes "On-Demand-Shuttle", früher bekannt als "Rufbus", aber nicht ganz so "convenient". So viele neue Möglichkeiten ... Fast nichts hält davon ab, sie zu nutzen. Außer die starke "Macht der Gewohnheit".

Es geht aber noch schlimmer: In den feineren Gegenden, etwa rund um München, hat man sogar den Eindruck, das ginge hier Niemanden was an, mit der Klimakrise, zumindest nach der Zahl der Auspuffrohre zu urteilen. Nach dem Motto "not my climate change" feiern denn auch die Hochleistungssparten der großen Autohersteller wie AMG, M-Power oder RS fröhliche Urständ und Rekordverkäufe, als gelte es, eine letzte "fossile Party" würdig röhrend zu begehen.

Kognitive Dissonanz: Denn sie tun nicht, was sie wissen

Das ist schwer rational zu fassen und mit gesundem Menschenverstand zu begreifen, vor dem Hintergrund der längst krisenhaften und katastrophalen Anzeichen: Schmelzende Pole und Gletscher, brennende Wälder, knappes Wasser, verheerende Dürren und Hitzerekorde, schon heute klimabedingte Migrationsbewegungen, beschleunigtes Artensterben ...

Aber auch dafür hat die Soziologie einen Begriff geprägt: Kognitive Dissonanz. Sprich: Man weiß es, handelt aber nicht danach, sondern blendet es schlicht aus.

"Denn sie tun nicht, was sie wissen", heißt ein Kapitel im überaus klugen und visionären, aber so gar nicht dogmatischen Werk des Vordenkers und Soziologen Harald Welzer und des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie mit dem programmatischen Titel "Das Ende der Welt, wie wir sie kannten", eine mittlerweile auch schon wieder zwölf (!) Jahre alte Mahnschrift an die Gesellschaft, sich doch am Riemen zu reißen.

Es heute noch mal "krachen" lassen

Darin findet sich die bezeichnende Anekdote als Beispiel einer kognitiven Dissonanz par excellence aus dem Jahr 2008, die auch von 2021 stammen könnte, von einem jungen Unternehmer und einer aktiven Gruppe von Mittelständlern, die sich in einer Kleinstadt für die klimaschutzmäßige Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger einsetzte. Nach der Veranstaltung stellte sich heraus, er hatte sich privat gerade einen Audi RS6 bestellt.

Verblüffende, für sich gesehen rationale Begründung: "Letzte Gelegenheit. In ein paar Jahren kann man so was sowieso nicht mehr fahren". Da hat er sich mal tüchtig getäuscht! Es ist 2021 immer noch "opportun" und nicht etwa sozial geächtet.

Einfach die Realität ausblenden, das klingt nicht nur nach Trumps "alternativen Fakten", sondern auch nach der Politik der sogenannten "Alternative für Deutschland", deren gesellschaftliche "Alternative" wir alle nicht wollen können.

Aber auch so gilt: Wenn der deutsche Neuwagenkäufer im Schnitt weiter gestiegene und sagenhafte 36.000 Euro für ein Fahrzeug ausgibt, kann einem niemand mehr erzählen, dass davon kein E-Auto erschwinglich sein soll. Eher mangelt es am echten Willen.

Oder besser gesagt: An den entsprechenden politischen Leitplanken. Und so löblich ja eine Umweltprämie als Anreiz sein mag, aber ganz ehrlich: Die Segnungen kommen doch wohl eher denjenigen zugute, die sich über die Anschaffung eines elektrisch angetriebenen oder unterstützen Neuwagens überhaupt Gedanken zu machen leisten können.

Völlig fragwürdig wird es, wenn man sieht, dass Plug-in-Hybride, meist die Topmodelle der jeweiligen Range und nicht selten der trendigen wie klimaschutzinkompatiblen SUV-Klasse zugehörig, sich üppig aus dem Topf bezuschussen lassen. Das geht auch "sozial präziser", gelinde gesagt.

Und auch ökonomisch: Denn die Prämie erschwert im Nebeneffekt auch Start-up-Unternehmen den Marktzugang, die die (Auto)Mobilität radikaler neu erfinden wollen, als sich die Etablierten es trauen, siehe eGO Life oder Sono Motors mit dem Sion. Das ist dann auch eine indirekt "soziale Frage", denn die Jungunternehmen haben sich nicht zuletzt "Elektromobilität für Alle" auf die Fahnen geschrieben, am besten im Sharing.

Mit dem Finger auf Andere: Das hilft nicht weiter

Vor allem die Union und FDP entdecken immer wieder sonntags ihr soziales Herz, weniger aus echter Überzeugung, sondern vielmehr, um den anderen "soziale Kälte" zu unterstellen. Und vor allem, um zu verhindern, dass sich wirklich etwas ändert. Statt mit eigenen Ideen aufzuwarten, zeigen sie lieber mit dem Finger auf andere. Leider im Kontext der elend, aber erwartbar schief gelaufenen, weil von den Gegnern der Veränderung (die teils auch Leugner des Klimawandels sind) bewusst missverstandenen Benzinpreisdebatte auch die SPD, respektive ihr sonst so seriös argumentierender Kanzlerkandidat Olaf Scholz.

Das muss die Republik im Jahr 2021 und nach dem im wahrsten Sinne der Politik den Weg weisenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts besser hinbekommen. Womit man mitten drin ist im Leitthema des mit Spannung erwarteten Parteitags der Grünen, der sogenannten 46. Bundesdelegiertenkonferenz, die in Berlin über die symbolisch begrünte Bühne ging.

Wenn Joe Kaeser für die ökosoziale Wende wirbt ...

Dass sie eine Partei des Klimaschutzes sind, wurde fast schon zur Randnotiz, so sehr bemühten sich die grünen Spitzenpolitiker und allen voran ihre Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock um die Betonung des "sozialen" bei ihrem Projekt der "ökosozialen" Wende: Mindestlohn rauf, HartzIV-Satz rauf, Spitzensteuersatz rauf. Und bekamen prompt Beifall von prominenter Seite: Neben dem zu mutigen, arbeitsplatzsicherenden Schritten anspornenden DGB-Chef Rainer Hoffmann klinkte sich niemand geringeres als Siemens-Aufsichtsratschef Joe Kaeser klinkte sich mit einem Grußwort ein. Kaeser bekannte sich klar zu der Vision der "ökosozialen Marktwirtschaft" und wünschte den Grünen alles Gute bei der Umsetzung und dass sie es nicht versemmeln sollten.

Jetzt sei die seltene Gelegenheit, dass das Kanzleramt erobert werden müsse, nicht verteidigt, wer wisse schon, wann die Chance wiederkomme, so der Manager. Er sieht ein extrem enges Gelegenheitsfenster, um die Klimakrise, die er in ihren Auswirkungen klar wahrnimmt, noch in den Griff zu bekommen oder einzudämmen.

Die Regierung will die Benzinpreise erhöhen, nicht (nur) die Grünen

Die Grünen bekennen sich klar zur sozialen Marktwirtschaft, deren Zusatz aber in den letzten Dekaden arg unter die Räder ungezügelten Neoliberalismus geriet. Sie rufen nicht zum Systemsturz oder gar der Weltrevolution, wollen die Marktwirtschaft aber "öko-sozial" korrigieren und reformieren. Beides ist dringend nötig. Exemplarisch betonte beim Thema Mobilität die Kanzlerkandidatin auch die plausible Idee des Energiegeldes als Ausgleich für etwaige Härten der Benzinpreiserhöhung. Diese will im Übrigen, entgegen der Aussagen manches Unionspolitikers oder offenbar aus "clickability"-Gründen ins Scheitern verliebter Medien, nicht originär Baerbock erhöhen, sondern die Bundesregierung.

Das Klimaschutzpaket sorgt über einen CO2-Preismechanismus automatisch dafür, dass sich der Preis für fossile Brennstoffe erhöht. Punkt. Die Grünen wollen nur mehr Tempo dabei machen.

Aber jetzt auch im "Cent"-Bereich und so, dass es der murrenden grünen Basis, die sich mit über 3.000 großteils glattgebügelten oder "pro toto" übernommenen Änderungsanträgen Gehör verschaffte, längst nicht ausreicht. So forderte etwa ein Antrag Tempo 70 auf Landstraßen und Tempo 100 auf Autobahnen. Ein anderer die Erhöhung des CO2-Preises pro Tonne auf 80 Euro statt wie vom Vorstand vorgeschlagen 60 Euro bis 2023. Vielen Klimawissenschaftlern genügt das übrigens auch nicht: Das UBA forderte jüngst einen Preis von 100 Euro pro Tonne CO2, damit das Instrument überhaupt steuernde Wirkung entfalten kann.

Wie auch immer: Das Energiegeld symbolisiert förmlich, wie die Partei die Ökowende mit einem sozialen Ausgleich in einer Gesellschaft verknüpfen will, die immer weiter auseinanderdriftet, wie auch jüngste Vermögensstudien untermauern. In der Pandemie sind die "oberen 10.000" noch reicher geworden, am unteren Ende kommt man dagegen kaum noch über die Runden. Und stellt sich Fragen nach einem neuen Auto überhaupt nicht, elektrisch oder verbrennungsmotorisch.

Nicht Verbote stehen im Mittelpunkt des ökosozialen Vorhabens, wie von den Gegnern behauptet, sondern "Gebote". Und das ist jetzt nicht biblisch, sondern im Wortsinne gemeint. Und wenn man das Wort mal im Kopf "kreisen" lässt, stecken da auch noch das Präfix "An-Gebote" mit drin. Denn die Öko-Partei ist längst aus den Kinderschuhen hinaus und hat als bisher einzige Partei eine positive Vision der Zukunft entwickelt, wie es die Welt trotz aller Widrigkeiten und Horroszenarien doch noch schaffen kann, das Ruder herumzureißen und Wohlstand mit einem nachhaltigen Lebensstil zu verknüpfen.

Klimakrise: Was "geboten" ist

Noch weiter mit dem Wort gespielt steckt im Gebot auch drin, dass es ja auch dringen "geboten" ist, die Dinge in die Hand zu nehmen und zum Besseren zu wenden. Weiter wie bisher? Keine Option. Politik als "Kunst des Möglichen" im Merkelschen Sinne? Dem erteilt Baerbock vehement eine Absage. In der Klimakrise müsse die Politik möglich machen, was eben notwendig ist. Da sei die Politik die Kunst dessen, "was wir möglich machen", appellierte die junge Kandidatin, die offenbar so vielen älteren Leuten, vornehmlich Herren mächtig Angst macht.

Sich in dieser Situation nicht zu bewegen und der Bevölkerung zu vermitteln, es könne so weitergehen wie bisher, während man zugleich selbst einen Klimavertrag zu erfüllen hat, ist entweder Schizophrenie. Oder Heuchelei. Oder beides. Vom Wettbewerb der besten Ideen ist dieser Wahlkampf jedenfalls noch nicht erfüllt. Wir brauchen ihn aber dringend.

Oft wird man auch gefragt: Soll man sich denn jetzt schämen, weil man einen Verbrenner fährt? In jeder Talkshow-Runde würden die Grünen-Spitzenpolitiker so einer Frage "beschwichtigend" ausweichen: Nein, natürlich nicht! Man will ja niemanden verschrecken. Aber weckte man sie nachts auf, würden sie vielleicht reflexartig antworten: "Ja, natürlich schon, zumindest ein bisschen". So wie zu Anfang seiner Amtszeit in spontaner, aber ehrlicher Weise Winfried Kretschmann antwortete: "Weniger Autos sind natürlich besser als mehr". 

Fossil-Scham: Ein bisschen wäre schon mal ein Anfang

Vielleicht sollten wir alle ein bisschen Fossil-Scham entwickeln. Und SUV-Scham wäre auch nicht schlecht. Mit dem Auto zum Bäcker? Sorry, aber das geht gar nicht (und war schon immer Quatsch). Mit dem Verbrenner in die Stadt? Puh, muss das noch sein - oder geht das nicht anders. Dienstreise von München nach Berlin? Flieger?! Das muss doch nicht mehr sein, wenn der ICE in 3:55 von Zentrum zu Zentrum stromert.

Die Idee von der durch Greta Thunberg berühmt gewordenen "Flug-Scham" oder der "Fossil-Scham" ist ja, dass es nicht mehr die Norm ist, ungeniert einen 400-PS-SUV fahren zu dürfen, sondern sich dafür "genieren", ein herrliches altmodisches Wort, zu müssen.

"Shifting baselines" heißt das in der Soziologie, die Normen für gesellschaftliches Handeln verschieben. Und die sollten wir rasch dahin verschieben, dass es goutiert wird, sich klimafreundlich zu verhalten. Der Autor dieser Zeilen lebt seit Jahren das von den Grünen jüngst vorgeschlagene Modell, vermeidet eisern innerdeutsche Flüge (übrigens auch aus Komfortgründen), fährt lieber Zug samt Faltrad (was manchmal auch sehr mühevoll und zeitraubend, aber meist ein Gewinn ist) - und wird dafür aber meist eher belächelt statt belobigt. Noch ist das irgendwie freakig, aber nur weil die Norm schief hängt ...

Entdecke die Möglichkeiten: Längst geht so einiges mehr

Was keine Klage sein soll, schließlich tut man das ja auch für das eigene Gewissen und aus eigenem Antrieb. Nächste Challenge: Privat fossilfreie Fahrt durch das Jahr. Klappt bisher prima, nachdem es auch im Carsharing immer mehr E-Autos gibt. In der Stadt ist sowieso meist das Fahrrad das schnellste und stressfreiste Fortbewegungsmittel. Wie auch immer: Es geht hier nicht um das persönliche, sondern mehr um den generellen, den exemplarischen Punkt, die Perspektive zu wechseln und klimafreundliches Verhalten zu unterstützen. Das ist schon heute möglich, aber man muss es halt auch machen.

"Fossil-Scham", ein bisschen jedenfalls wäre schon mal ein Anfang. Diese ist auch schon verbreiteter als man denkt: Nur, aus Scham sollte dann irgendwann auch Handeln erwachsen.

Wobei noch hinzugefügt sei: Keiner ist ohne Schuld und niemand ist perfekt. Aber erstens hilft es nicht weiter, immer darauf zu verweisen, wie Söder und Laschet es gerne tun, dass sogar die Grünen ja so moralisch einwandfrei nicht sind wie sie behaupten: Dass der Vergleich hinkt, wenn man in einer Pandemie Millionen-Provisionen für Maskendeals kassiert und Doktortitel erschleicht oder auf der anderen Seite ein zurecht erhaltenes Weihnachtsgeld zu spät gemeldet oder ein Detail im Lebenslauf korrigiert wird, sei nur am Rande angemerkt. Aber der Effekt ist: Dadurch zieht man alle immer auf das eigene, niedrigere Level runter - und es bewegt sich nichts vorwärts. Das muss es aber. Und zweitens?

Es ist besser, statt immer auf die anderen zu zeigen, irgendwo anzufangen. Und dafür gibt es nun mal keinen besseren Adressaten als: Sich selbst. Was einem dann auch ein ganz entscheidendes Instrument in die Hand gibt: Die Macht des Handelns. Der Selbstermächtigung. Oder wie die Psychologie sagt: Kontrollüberzeugung. Und die ist das beste Mittel gegen Zukunftsangst. Denn die Zukunft mit all ihren Zumutungen und Herausforderungen kommt sowieso. Und mit ihr der Wandel, für den es sich gilt zu wappnen. Gefährlich wäre nur, nichts zu tun. Noch gefährlicher: So zu tun, als könnten wir "zurück in die Zukunft".

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