Fahrbericht Lucid Air: Luxus-Lichtgestalt?
Zum ersten Media-Drive ließ sich Lucid Motors nicht lumpen: Über 340 Kilometer von Zürich nach Konstanz über den Feldberg im südlichen Schwarzwald und über Basel wieder nach Zürich zurück: Lucid Motors suchte eine Teststrecke aus, die vom Innenstadtgekrieche in der Schweiz über knackige Serpentinen bis zur deutschen Autobahn alle Straßenarten bereithielt.
Knackiges Fahrwerk, straffe Lenkung
Und schon auf den ersten Metern erfreut man sich an der knackigen Kompaktheit des Air, die so gar nix amerikanisches hat. Kein Wunder, stammen doch viele Fahrwerkstechniker aus Deutschland und UK, unter anderem von BMW und Jaguar und entsprechend fährt sich der 2,3-Tonner auch. Innen bietet er auch im Fond massig Platz und Türen, die mit 90 Grad extremst weit öffnen! Knieraum gibt es immer zum Niederknien, beim Grand Touring mit 112-kWh-Akku verflacht eine zweite Zelllage allerdings den Fußraum im Fond und zwingt einen zu einer etwas froschigen Haltung. Deshalb werden wir später den „Touring“ zur hier tatsächlich goldenen „Programmmitte“ küren, nachdem wir alle drei Varianten des Air, den „Pure“ (ab 109.000 Euro brutto, 358 kW oder 487 PS stark mit bis 660 bis 725 km Reichweite), den „Touring“ (ab 129.000 Euro brutto, 462 kW oder 629 PS stark mit bis 648 bis 725 km Reichweite) und den „Grand Touring“ (ab 159.000 Euro brutto, 611 kW oder 830 PS stark mit bis 783 bis 839 km Reichweite) nacheinander verkosten durften.
Reichweite: Echte 800 Kilometer plus sind drin!
Aber es sind weniger die Leistungsangaben als vielmehr die Reichweiten, die uns neugierig machen. Abgeholt werden wir von einem Chauffeurservice im Grand Touring, der bei Abfahrt in Zürich tatsächlich über 800 km Reichweite meldet. Bei Ankunft in Konstanz rund 740. „Kommt hin, der ist da sehr ehrlich“, meint unser aus Berlin stammender Fahrer, der im Pendelverkehr auf Schweizer Autobahn zwischen 16 und 17 kWh/100 km verbraucht – in einer 611-kW-Luxuslimo! Gut, beim freudigen Schwarzwald-Surfen und Autobahnabschnitten mit Topspeed (270 km/h beim Grand Touring, 230 km/h bei den beiden anderen) kamen wir dann eher auf 20 bis 21 kWh/100 km – ein Verbrauch, von dem wir bei BMW i7 M70 nur träumen konnten: Unter 25 kWh/100 km war da nix zu wollen. Zusammen mit dem 112-kWh-Akku wird der Air damit zu DEM Langstreckenreisewagen. Auch Dank dem cW-Wert von 0,195!
Große Kofferräume hinten und vor allem vorn!
Da der Air auch deutlich flacher baut als der i7 erzeugt er kein ganz so kathedralenhaftes Raumgefühl und eigentlich könnte man auch vorn gern noch tiefer im flachen Lucid sitzen, der eher sitzt wie ein enger Lederhandschuh und damit den älteren Jaguar XJ nicht unähnlich ist, oder anders formuliert: Er strömt in seiner knackigen Kompaktheit und dem ordentlichen Raumangebot genau zwischen Porsche Taycan und BMW i7…Lücke genutzt! Zumal er einen 627 Liter großen Kofferraum hinten und einen 283,4 Liter großen Mega-Frunk vorn bietet. Klar, eine große Heckklappe wie beim Mercedes-Benz EQS oder Teslas Model S wäre noch cooler gewesen, aber man kann nicht alles haben, denn: Lucid hat beim Air ohnehin schon wirklich fast ALLES von Grund auf ganz neu und selbst entwickelt.
Daraus resultiert eine Mini-E-Maschine, die mit DC-DC-Wandler keine 100 Kilogramm wiegt und gerade mal Bierkastenformat (!) hat, ein speziell eingehauster Akku (dessen Zellen von LG, Panasonic oder Samsung stammen) und eine „Wunderbox“, die DC-Laden mit bis zu 315 kW erlaubt, 900-Volt-Technik sei Dank! Sodass sich der Air bei Bedarf binnen kürzester Zeit wieder „vollsaugt“ für die große Tour: Der Grand Touring holt sich bis zu 400 km in 16 Minuten, Touring und Pure lassen sich dafür laut Lucid rund 20 Minuten Zeit. Und ja, das Ladegerät ist bereits multifunktional und bidirektional (V2X) ausgelegt.
Mit Glasdach extrem luftiges Raumgefühl
In Summe ist es dem Start-Up aus Kalifornien tatsächlich gelungen, hier extrem kompetente Premiumlimousine auf die Räder zu stellen, die ab dem Touring noch dazu mit riesigem Glasdach punktet, deren Windschutzscheibe gaaanz weit nach hinten gezogen wurde, was vorn für ein extrem luftiges Raumgefühl sorgt.
Warum fahren dann nicht schon zigtausende auf Deutschlands Straßen? Weil die Preise eben nicht ganz so günstig sind und die Marke sich tatsächlich erst etablieren muss. Ein tolles Produkt ist toll, wenn man aber nur einen Store in München hat, wird man damit nicht so viele Interessenten Ansprechen. Und gut, ein paar „lows“ hat der Air auch: Zuallererst den Sound: Man hört das vordere Differential summen und das klingt wie eines dieser lahmen Kinderautos – absolut unpassend! Kann man aber wegbekommen oder optional mit einem Warp-Sound eines bekannten oder weniger bekannten Komponisten überspielen, Lucid tendiert zu Ersterem.
Updates können viele Softwarethemen verbessern
Und da man eh schon 80 Updates fuhr, die den Air auch sparsamer machten, kann man bei Gelegenheit auch noch mal Navi und Infotainment angehen. Ersteres liegt entweder etwas fitzelig nur oben auf dem kleinen Screen, optional auch nochmal auf dem großen Zentralscreen darunter. Dort finden sich aber viele weitere Bedienelemente, die nicht mehr im Direkteinsprung liegen, wenn man Lenkrad und Spiegel verstellen will. Man kann sich an die etwas eigene Bedienung gewöhnen, top wäre aber anders. Und auch die Erkennung der Geschwindigkeitsbegrenzung erfolgt eher amerikanisch-lässig! Weiß Entwickler Eric Bach und winkt ab: Das wird eines der ersten Themen sein, die man angehe. Und ja, man kann noch nicht die Navikarte für das Fahren nutzen wie beim VW Id.3 oder BMW i5 oder i7, die dann auch ohne programmierte Route von sich aus an engen Kurven oder vor Ortseinfahrten verzögern. Wie so viele Start-Ups hat Lucis also vor allem softwareseitig noch Potentzial zur Perfektion, die bei Karosserie, Laden, Effizienz und Antrieb schon gegeben ist.
Duftes Interieur – je nach Ausstattung immer hochwertiger duftend
Interessant auch, dass der Air je nach Ausstattung anders duftet: Als Pure eher neutral, ordert man die höheren Ausstattungen mit steigendem Echtlederanteil, reicht man das auch: Der Grand Touring, teils damit, teils mit Wildlederoptik am edelsten ausgeschlagen, duftet dann nach Luxusklasse. Die Verarbeitung könnte in kleinen Details noch eine Idee sorgfältiger sein, was auch für das Geräusch der bis zu 90 Grad(!) öffnenden Türen gilt.
Aber egal – nachdem wir straffes Fahrverhalten und (Raum)Effizienz schätzen, gepaart mit schickem Design und starken Antrieben, ist der Lucid Air für uns einer der stärksten Neueinstiege im Segment! Zumal er Luxusklasse auf unter fünf Metern hinbekommt und damit kürzer baut als ein BMW i5! Womit die Richtung für die deutschen Premiums vorgegeben ist.
Ach ja, wir versprachen ja, noch zu erklären, warum wir den „Touring“ als goldene Programmmitte erachten, die er ist: Er bietet merklich mehr Punch als der Pure, hat aber nicht den flachen Fond-Fußraum des „Grand Touring“. Und ist ab 129.000 Euro brutto (gut 108.400 Euro) noch halbwegs bezahlbar…die Reichweite? Nun gut, unter Ausnutzen des Powerpotenzials sind immer echte 500 Kilometer drin und wer dezent gleitet, kommt eben auch deutlich weiter…wir standen am Ende bei 19,35 kWh/100 km – ein strahlend helles Ergebnis! Alles zu teuer: In den USA startet man demnächst mit einem Heckantrieb-Basismodell – auch das wird nach Europa kommen, womit der Air dann in fünfstelligen Preisregionen ankommt, um auch bei BMW i5 und Mercedes-Benz EQE zu wildern.
Was bedeutet das?
Luzid heißt „klar und verständlich dargestellt“: Das ist ausgerechnet einem US-Hersteller bestens gelungen, der klar und verständlich gezeigt hat, dass man Luxusklasse unter fünf Metern Länge und 20 kWh/100 km Verbrauch hinbekommt!
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