Exklusiv-Interview mit Audi-Chefdesigner Marc Lichte: Ein Auto für alle Fälle

Im Interview durften wir mit Audi-Chefdesigner Marc Lichte einen Blick hinter die Kulissen und die Entstehung der vierten „spehre“-Studie werfen. Diese vereint elegante GT-Limousine, Offroader und Pick-up in einem Fahrzeug.

Am besten immer am Objekt: Audi-Chefdesigner Marc Lichter erklärt VISION-Mobility Chefredakteur Soller die Details des activspehre concept. | Foto: Audi
Am besten immer am Objekt: Audi-Chefdesigner Marc Lichter erklärt VISION-Mobility Chefredakteur Soller die Details des activspehre concept. | Foto: Audi
Gregor Soller

Auf den ersten Blick sticht einem beim activesphere der starke Kontrast zwischen Fahrwerk und Fahrzeugkörper ins Auge: Auf einem Offroad-Unterbau sitzt eine extrem elegante flache Fließheckkarosserie – beides stimmig vereint. Ohne dass auffiele, dass man dieses Fahrzeug bei Bedarf gar in einen Pick-up verwandeln kann.

Doch der eigentliche Clou eröffnet sich erst im Inneren der Studie, in der man luftig - fast wie in einer Gondel - und doch geborgen wie am Kaminfeuer sitzt. Ein erstaunlicher Gegensatz, den auch das Thema „Virtual Reality“ ermöglicht, den Audi hier zu neuen Qualitäten bringt – vielleicht mit dem einzigen kleinen Nachteil, dass man grundsätzlich eine AR (Augmented Reality)-Brille benötigt, um das volle Potenzial des activespehre zu erkennen und auszuschöpfen. Diese Brille ermöglicht es, die reale Umwelt weiter wahrzunehmen und gleichzeitig digital eingeblendete Informationen zu sehen – Audi spricht darum auch von „mixed reality“.

 

Lichte selbst trifft bereits eine halbe Stunde vor dem Start der Präsentation ein und umstreift ungeduldig und in freudiger Erwartung die neueste Studie seines Teams, die einmal mehr in perfekt funktionierende Realität umgesetzt wurde.

Eine elegante Fließhecksilhouette auf großen grobstolligen Reifen – wie real ist das Konzept des activesphere?

Lichte (freut sich, endlich loslegen und ins Detail gehen zu dürfen): „Realer als man vielleicht meinen möchte. Zuerst muss man feststellen: Ein solches Auto als Alternative zu den Premium-Hardcore-Geländewagen gibt es im Konzern ja noch gar nicht.“

Weshalb noch nicht? Plant Ihr etwas Entsprechendes?

Lichte: „Oh, sorry, Spoiler…tatsächlich gibt es zu den einschlägigen Fahrzeugen am Markt innerhalb unseres Konzerns kein entsprechendes Produkt. Und nachdem solche Extrem-Offroader in vielen Haushalten Zweit-, Dritt- oder gar xt-Wagen sind, haben wir uns gefragt, wie man diese davon begeistern könnte, mit nur einem Fahrzeug Vorlieb zu nehmen. Vor allem in den USA, wo man neben Sportwagen, Limousinen, Vans und Geländewagen auch noch Pick-ups fährt. Und wir fragten uns natürlich, wie so etwas als Audi aussähe.“

Elegant auf jeden Fall. Um ehrlich zu sein, könnten wir uns das schon gut in nicht allzu ferner Zukunft in Serie vorstellen, oder?

Lichte (lächelt vielsagend): „Sagen wir mal so – die spehre-Konzepte sind alle viel serienrelevanter als es auf den ersten Blick erscheinen mag.“

Das fiel uns auch auf: Bei den sphere-Konzepten gibt es gar kein klassisches Stufenheck mehr…

Lichte: „Weil Audi eigentlich eine Fließheck- und Avant-Marke ist! Mittlerweile laufen die Coupés zusammen mit den Avant-Modellen dem klassischen Stufenheck weltweit den Rang ab, selbst in den einstigen Stufenheck-Hochburgen China und USA. Und das spielt uns ganz gut in die Karten, denn die Fließheckmodelle haben seit dem 100 Coupé Tradition bei uns, bringen aerodynamische Vorteile und kaschieren die durch die Akkus größere Bauhöhe besser.“

Aber werden die Akkus nicht perspektivisch immer flacher?

Lichte: „Exakt! Hier werden wir mit den Fahrzeugen auf PPE-Basis neue Maßstäbe setzen. Und wir nutzen das jetzt auch beim activesphere, der im Vergleich zur Gesamthöhe einen extrem schlanken Karosseriekörper aufweist. Was wir auch durch die Verglasung im unteren Türbereich erreichen, die zudem ein ganz neues Raumgefühl ergibt. Ohne, das man all die Umbaumöglichkeiten sieht. Et voilà!“

 

Auf Knopfdruck gleitet die Heckscheibe nach oben, die Klappe zwischen den Rückleuchten senkt sich ab und hinter der Rückbank stellt sich ein halb verglastes Schott zum Innenraum auf. Am Heck ersetzt eine offene Pick-up-Ladefläche mit Vertiefungen und ausklappbaren Haltern für Fahrräder das elegante Fließheck. Im Dach könnte man noch einen Skiträger ausklappen.

Eleganter Umbau! Und schon stehen wir vor einem Pick-up.

Lichte: „Praktisch, oder? In Realität benötigt man das voraussichtlich eher seltener, weshalb Aerodynamik und Eleganz im Fokus standen. Mir persönlich gefallen Dachträgersysteme und Ladeboxen ja so wenig, dass ich Ski, Schlitten oder mal Langgut vom Baumarkt nach Möglichkeit immer innen im Auto mitnehme. Aber ein Trägersystem ist natürlich praktisch, weshalb wir es versenkt gedacht haben. „

Und wo nehmt Ihr innen das Volumen im Dachbereich dafür her?

Lichte: „Die volle Innenhöhe braucht man nur über den Köpfen. In der Mitte haben wir hier wie im Flugzeug ein Compartment eingezogen, dass auch den integrierten Dachgepäckträger beinhaltet. Fährt der aus, sieht das fast aus, als würden die Ski auf dem Auto schweben! Aber bitte nimm gern mal Platz!“

Lichte lässt die elektrischen Türen öffnen und eine AR-Brille reichen. Tatsächlich wirkt der Innenraum extrem luftig, Armaturentafel existiert keine, lediglich eine flache Box vor dem vorderen Fußraum. Über den blickt man durch den „Singleframe“, der transparent in Glas ausgeführt ist, vorn direkt nach draußen. Sodass man tatsächlich das Gefühl hat, fast wie in einer Gondel zu sitzen. Unterstützt wird das von den im unteren Bereich verglasten Seitentüren. Alle Anzeigen sieht man virtuell auf der Brille, wobei die mehrere Ansichten anbietet: Eine nur für den unteren Bereich, auf der die wichtigsten Infos erscheinen. Eine für unten und oben, wo man unten nicht ganz so brisante Routen- und Umgebungsinfos eingespielt bekommt, während darüber alles angezeigt wird, was auf der aktuellen Route wichtig ist. Und um „quattro“ noch erlebbarer zu machen, kann man direkt vor sich auch noch die Vorderräder samt vorhandenem Antriebsmoment einspielen lassen oder auf einer virtuellen Karte sehen, wo sich gerade Freunde befinden, wie das Gelände beschaffen ist, das Wetter werden wird oder oder…

Beindruckend! Vor allem das luftige Raumgefühl – trotzdem fühlt man sich wohl.

Lichte freut sich sichtlich und sprudelt wieder los: „Da spielen ein paar interessante psychologische Wahrnehmungsaspekte hinein. Tatsächlich nimmt man einen in sich abgeschlossenen Raum, dessen Ende man sehen kann, eher als behaglich wahr, es stellt sich unterschwellig ein geborgenes Gefühl ein. Da man im activesphere bis ans vordere Ende des Wagens sehen kann, entsteht genau dieser Eindruck. Man meint, eher in einem gläsernen Loft als in einem Fahrzeug zu sitzen. Zumal auch von oben Tageslicht hereinkommt. Und dadurch, dass das Auto vorn und an den unteren Seitenflächen „offen“ - oder besser „transparent“ - gestaltet ist, verschmilzt es mit der Umgebung. Im Schnee beispielsweise ist um einen herum fast alles weiß, in der Wüste kommt man sich vor, als würde man direkt durch den Sand surfen – das schafft ein komplett neues Raumerlebnis!“

Viel Glas sowie eine Innenausstattung mit abwaschbarem Gummiboden und klaren Linien. Die wirkt auf den ersten Blick beim Einsteigen fast ÖPNV-mäßig. Aber trotzdem fühlt man sich erstaunlich wohl und geborgen – wie kommt das?

Lichte: „Die Wärme erzeugen wir optisch durch die roten Polster, die von fließender Lava inspiriert sind. Indem das Rot nach oben ausläuft, schaffen wir wieder eine Anbindung an die Karosserie, die in einem dunklen bläulichen Grau gehalten und von Naturstein inspiriert ist. Dazu kommen Holzeinleger als warme Akzente. Alles natürlich aus rezyklierten Materialien gewonnen.“

Die Anzeigen durch die Brille passen perfekt, sie zitieren teils sogar die Grafik im Ur-quattro - ich sehe sie nur etwas unscharf, da ich bereits Brillenträger bin. 

Lichte: „Ur-quattro ist korrekt! Freut mich, dass solche Details wahrgenommen werden! Zur Brillenträgerfrage: Sehschwächen kann man in der Realität rausprogrammieren – außerdem wird die AR-Brille zukünftig noch kompakter und leichter, sodass wir Brillenträger praktisch gar keinen Unterschied mehr spüren werden. Man kann damit den Innenraum ganz anders nutzen. Greife mal nach links - dort kann man ein virtuelles Verstellrad hinterlegen, das man sich irgendwo im Interieur ablegen kann. Einfacher und intuitiver kann man ein Fahrzeug nicht bedienen, oder?“

Aussagen in diesem Video müssen nicht mit der Meinung der Redaktion übereinstimmen.

Tatsächlich geht die virtuelle Welt der Studie nochmal weit über das hinaus, was Nio und BMW bisher präsentiert haben! Aber könnte man überhaupt noch selbst fahren?

Lichte: „Aber sicher doch. Einen Moment bitte!“

Auf Knopfdruck klappt aus dem „Kasten“ im Fußraum eine komplette Armaturentafel mit Lenkrad aus. Großen Fahrern bleibt dabei ein „Sichtspalt“, mit dem sie immer noch durch den Singleframe auf die Fahrbahn blicken können. Nur die AR-Brille sollte man aufbehalten, denn die flach bauende Armatureneinheit bringt nur ein paar Klimaausströmer und das Lenkrad mit. Wenige Instrumente versorgen den Fahrer zwar mit den relevantesten Infos wie Tempo und Ladezustand, so dass er das Auto auch ohne AR-Brille bewegen könnte. Doch mit Brille gibt deutlich mehr lesefreundliche Zusatzinfos, ohne dass der Blick auf die Straße gestört wäre.

Lichte: „Jetzt könnte man selbst zum Lenkrad greifen und einen Offroad-Parcours genießen oder eine kurvige Landstraße. Sobald man wieder auf einer eintönigen Autobahn oder im Feierabendstau unterwegs ist, klappt man das eben alles wieder weg.“

Genial, aber auch ziemlich aufwändig in der Entwicklung.

Lichte (lächelt): „Oh ja – zumal man diese Armatureneinheit in versenktem Zustand ja auch nicht sehen soll, weshalb sie nicht groß auftragen darf. Vor allem Modellbau-technisch war das in der Tat aufwändig umzusetzen. Aber wenn wir das ganze Potenzial der Idee zeigen wollen, inklusive virtueller Realität und autonomem Fahren, dann muss man diesen Aufwand auch betreiben!“

Deine Begeisterung kennt echt keine Grenzen…

Lichte (lacht): „Stimmt! Und es macht mir immer noch so viel Spaß, wie am ersten Tag meines Design-Studiums. Sollte ich den eines Tages mal verlieren, dann müsste ich mir wohl was anderes suchen, aber aktuell sieht es ganz und gar nicht danach aus – im Gegenteil, erfinden wir das Auto gerade doch nochmal ziemlich neu!“

Printer Friendly, PDF & Email