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Corona-Folgen: "Noch schwierigere Verkehrsverhältnisse"

Ein Drittel mehr fahren Auto statt ÖPNV, aber ein Fünftel mehr Fahrrad - das zeigt ein Mobilitätsreport über die Folgen der Krise. Wissenschaftler warnen vor Spaltung und Kollaps: "Es wird nicht von alleine besser".

"Neue alte Normalität": Auf dem Mittleren Ring in München kehrte schon ab Mitte Mai längst wieder der Status Quo ein. In der Gesamttendenz fahren in Deutschland noch deutlich mehr Leute mit dem Auto, aus Angst vor Ansteckung. | Foto: J. Reichel
"Neue alte Normalität": Auf dem Mittleren Ring in München kehrte schon ab Mitte Mai längst wieder der Status Quo ein. In der Gesamttendenz fahren in Deutschland noch deutlich mehr Leute mit dem Auto, aus Angst vor Ansteckung. | Foto: J. Reichel
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Johannes Reichel

Die Corona-Krise hat massive Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten der Bundesbürger und verschärft die Verkehrsprobleme weiter. Das deutet jetzt eine erste Studie MOBICOR zur Veränderung des Modal Split während der Pandemie an, die das Bundesbildungsministerium in Auftrag gegeben hatte. Deutschland steuere nach der Corona-Pandemie auf noch schwierigere Verkehrsverhältnisse zu, mahnen die Autoren. Die Wissenschaftler prognostizieren in einer mit Infas durchgeführten repräsentativen Studie für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für die nächsten Monate einen deutlichen Anstieg der Fahrten mit dem Auto, sollte der öffentliche Verkehr das in "ihn gesetzte Vertrauen nicht zurückgewinnen", wie das Ministerium formuliert.

Von der sich abzeichnenden Erholung würden alle Verkehrsträger profitieren, natürlich das Auto und selbst der öffentliche Verkehr, glauben die beteiligten Wissenschaftler um Robert Follmer, Bereichsleiter Verkehrs- und Regionalforschung, infas, Stephan Leppler, CEO, MotionTag GmbH sowie Prof. Andreas Knie, Leitung der Forschungsgruppe Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung WZB Wissenschaftszentrum Berlin.

"Der Autoverkehr wird sich vermutlich die Freiräume, die er vorübergehend dem Radverkehr überlassen hat, ganz überwiegend wieder zurückholen", so die Prognose der Wissenschaftler.

Als Ausnahme sehen sie möglicherweise wenige städtische Strecken, mit der Einschränkung:

"Sofern die Verkehrslenker vor Ort ihr zwischenzeitlicher Mut, dem Fahrrad neue Räume behelfsgestalterisch einzuräumen, nicht wieder verlässt. Denn es wird nicht von alleine besser werden", mahnen sie im Einklang mit der Ministerin. 

Mehr Autofahrten, aber auch mehr Bereitschaft für Rad- und Fußwege

Forscher des Wissenschaftszentrums Berlin, das die Studie zur Mobilität in Zeiten der Corona-Pandemie leitet, haben aber auch eine breite Bereitschaft festgestellt, Wege nach Möglichkeit mit dem Rad oder zu Fuß zurückzulegen, wenn die Voraussetzungen dafür stimmen.

„Die Bereitschaft der Menschen, im wahrsten Sinne des Wortes neue Wege in der Mobilität zu gehen, ist erfreulich. Wir müssen die Menschen mit attraktiven Angeboten begeistern, diese Bereitschaft auch in die Tat umzusetzen", appellierte Bundesforschungsministerin Anja Karliczek.

Aus ihrer Sicht müsse das bedeuten: sicher, sauber und verlässlich. Kurzfristig müsse über Maßnahmen für den Gesundheitsschutz versucht werden, das Vertrauen in den ÖPNV wieder zu verbessern. Ansonsten könnten die Belastungen durch Lärm und Abgase wieder steigen, warnt die Ministerin.

Ein Land steht (fast) still: Wenn das Zufußgehen dominiert

Die ersten Zwischenergebnisse der Untersuchungen zeigen, dass Deutschland während des Lockdowns weitgehend stillstand: Weniger Menschen waren unterwegs (85% auf 60%), die im Tagesschnitt deutlich kürzere Entfernungen zurücklegten (40 km auf 10 km). Das Zufußgehen dominierte das Verkehrsgeschehen bei den Erwachsenen in einem historischen Ausmaß (19% auf 30% Anteil aller Wege). Das Auto geht so anteilig von 59 % aller Wege in einem Durchschnitts-Mai vor der Pandemie auf etwa 55 % zurück, bleibt aber dennoch das beliebteste Verkehrsmittel. Allerdings hinterlässt Corona auch hier seine Spuren, wie die Autoren analysieren. Der Mitfahreranteil sinke recht deutlich, der Fahreranteil bleibe fast stabil. "Die Alleinfahrt ohne Maske verschafft also vielfach einen offenbar als ungefährdet empfundenen Rückzugsraum", erklären die Autoren.

Rund ein Drittel will Bahn und Bus meiden - Radanteil stabil

Der öffentliche Verkehr fällt dagegen deutlich von 10% auf 6 % ab. Rund ein Drittel der Befragten gab an, in der nächsten Zeit Bus und Bahn meiden zu wollen. Grund dafür ist die Angst, sich mit dem Corona-Virus anstecken zu können. Die Prognose ist düster: Das Verkehrssegment könne bisher weder sein altes Niveau noch seine Anteile wieder erreichen. In der Summe liegen die "Öffis" Ende Mai im Bereich der eigenen 50-Prozent-Marke. Maskenpflicht und das teilweise längere Zeit eingeschränkte Angebot machten den ÖPNV noch weniger zu einem Vergnügen, als er es für manche seiner Fahrgäste schon zu normalen Zeiten gewesen ist, so das harte Urteil.

"Unter den „oberen Zehntausend“ fährt gegenwärtig nach unseren bisherigen Resultaten so gut wie niemand mehr öffentlich", konstatieren die Mobilitätsexperten.

So gab jeder zehnte Befragte an, aktuell den ÖPNV grundsätzlich zu meiden und stattdessen lieber auf Wege zu verzichten. Ein gutes Drittel weiche grundsätzlich auf das Auto aus. Und jede(r) Fünfte schwinge sich lieber auf den Fahrradsattel, als auf Bus oder Bahn zu setzen, so die Autoren. "Zusammen geht der Branche so im Augenblick mehr als die Hälfte der Fahrgäste verloren", so die trübe Zwischenbilanz.

Der deutschlandweite Anteil des Fahrrades bleibt im Monatsschnitt für den Mai mit 10% gegenüber 12 % etwa stabil. Es zeigt sich aber, dass trotz des generellen Verkehrsrückgangs die absoluten Fahrradstunden in den Nachmittagsstunden angestiegen sind. Und vor allem, dass die Wegelängen um gut ein Viertel gestiegen sind.

Pendler-Bremse: Ein Drittel nutzte im April das Homeoffice

Vor allem im April sorgte der Lockdown zudem für eine Pendler-Vollbremsung: Ein Drittel der Befragten konnte vom Homeoffice aus der Arbeit nachgehen. Nach dem Stillstand war aber die überraschendste Erkenntnis für die Forscher in den ersten Maiwochen, dass es geht schnell wieder aufwärts ging. Dies zeigen sowohl die Tracking- als auch die neuen MOBICOR-Befragungsergebnisse.

"Nach einem Tiefpunkt vor Ostern gewinnt unsere Alltagsmobilität mehr und mehr ihr altes Niveau zurück. Bereits unmittelbar mit der ersten Lockerung Anfang Mai ist ein solcher Sprung zu beobachten. Danach geht es stetig aufwärts", schreiben die Autoren.

Kurz vor dem Monatsende zeigt sich bereits ein Pegel von 70 bis 80 Prozent der „Normalmobilität“. Dies gelte für die tägliche Unterwegszeit und die individuellen mittleren Kilometersummen – also sowohl die Zeit, die man täglich unterwegs verbringt als auch die Strecken, die man dabei zurücklegt. Noch eine interessante Erkenntnis bei der Rückkehr zum Status Quo:

"Je höher die ökonomische Lage ausfällt, desto größer ist erneut der Mobilitätsfußabdruck."

Die zwischenzeitliche Umkehr sei dabei plausibel und darauf zurückzuführen, dass in bestimmten Bevölkerungsgruppen weniger Homeoffice-Möglichkeiten gegeben waren und damit weiterhin die Notwendigkeit bestand, arbeitsbedingt unterwegs sein zu müssen, präzisieren die Autoren. 

Indizien sprechen für schnelle Rückkehr zur "alten Normalität"

Und geben abschließend große Unsicherheitsfaktoren in der gegenwärtigen Lage zu. Wird die Corona-Krise das Verkehrsgeschehen länger als nur in einer — ja noch nicht ausgestandenen – heißen Phase verändern? Viele An-zeichen sprächen dafür, dass die alte Normalität zumindest in Sachen Alltagsmobilität schneller wieder tägliche Praxis wird als während des Lockdowns oft unterstellt. Möglicherweise gelte dies jedoch nicht für alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen.

"Wer zurzeit über ein Auto verfügt, wird dies voraussichtlich eher mehr als weniger nutzen. Und wer sich dies nicht leisten kann, wird weiter auf den ÖPNV angewiesen sein", so die Prognose.

Rebound-Effekte: Wenn das Pendel zurückschlägt

Die vom Ministerium beauftragte MOBICOR-Studie befasst sich mit den Nachhaltigkeits-Auswirkungen des durch die Corona-Pandemie verursachten Mobilitätsverhaltens. In dieser Studie wird über einen dreijährigen Zeitraum ein Vergleich zur Situation vor, während und nach der Corona-Pandemie erfasst. Ein Hauptfokus liegt darauf, was dies für die Nachhaltigkeit der Mobilität bedeutet, welche mittel- bzw. langfristigen Verhaltensänderungen durch die Krise angestoßen, bekräftigt, verstetigt werden beziehungsweise wo es nach der Krise gegebenenfalls Rebound-Effekte gibt.

Das Projekt erhebt quantitative Verkehrsdaten und führt repräsentative Befragungen der deutschen Bevölkerung durch. Daraus werden Empfehlungen zur Unterstützung der Mobilitätswende abgeleitet. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) leitet das Projekt und wird unterstützt von infas (Federführung bei der quantitativen Erhebung), Nuts One (Unterstützung bei den qualitativen Interviews) und Motiontag (App-Erhebung).

Nächste Ergebnisse für Juli erwartet

Das Forscherteam hat bisher rund 1.000 Menschen im etablierten Erhebungsformat der „Mobilität in Deutschland“ (MID)-Untersuchung befragt und konnte auf diese Weise valide einen Vorher-Nachher Vergleich anstellen. Ergänzend wurden die Mobilitätsmuster einiger Personen mittels digitaler Erhebungstechniken per App zusätzlich erfasst. Die Erhebung ist als Längsschnitt für mindestens drei Jahre geplant und wird durch Stichprobenaufstockungen noch erweitert. Das Projekt wird im Rahmen der systemischen Mobilitätsforschung des BMBF gefördert. Die nächsten Ergebnisse der auf drei Jahre angelegten Studie erscheinen im Juli.

Probanden gesucht: Eigene App erfasst das Mobilitätsverhalten

Zur Studie, für deren weiteren Verlauf noch bis zu 50.000 Probanden gesucht werden, steht ab sofort eine eigene App für das Smartphone zur Verfügung. Diese zeichnet das Mobilitätsverhalten der Teilnehmenden auf. Die Daten dienen der Vertiefung der Ergebnisse, so dass auch soziodemographische und regionale Differenzierungen möglich werden. Die App „mobico“ ist frei zugänglich und kann auch unabhängig von der Teilnahme an den Befragungen genutzt werden. Weitere Informationen zur App und zur Beteiligungsmöglichkeit finden sich hier.

Was bedeutet das?

Man kann nur von einem typischen "Rebound"-Effekt sprechen, wie er in der Sozialwissenschaft klassisch beschrieben wird: Auf den kompletten Einbruch der (Auto)Mobilität folgt unter den veränderten Vorzeichen der Virus-Krise eine Zurückschlagen des Pendels. Wenn ein Drittel der befragten Personen statt den Öffis jetzt das eigene Auto nutzen und von den "oberen 10.000" überhaupt keiner mehr öffentlich fährt, dann ist das erstens klimatechnisch und zweitens gesellschaftspolitisch alarmierend. Und es ist gut, dass die Bildungsministerin und die Wissenschaft warnt. Aber was sagt eigentlich der Verkehrsminister zu diesem sich abzeichnenden verheerenden Rückschritt in Sachen Verkehrswende?

Die Frage ist darüber hinaus, wie sich gegensteuern lässt. Die Angst fährt in den Öffis - wie im Übrigen auch in den eigentlich sehr umweltfreundlichen Bussen der schwer gebeutelten Reisebranche - nun mal weiter mit und Abstände lassen sich hier nur schwerlich einhalten. Investieren in höhere Aufenthaltsqualität im ÖPNV, das sagt sich leicht, aber die VDV-Unternehmen waren ja schon vor der Krise gnadenlos unterfinanziert.

Jetzt kommen Einnahmeausfälle von bis zu 50 Prozent hinzu, die Wende zur Elektrifizierung der Fahrzeuge muss gestemmt und zugleich mehr Platz geschaffen werden. Das wirkt wie die Quadratur des Kreises.

Guter Rat ist in der Tat "teuer", ganz im Wortsinne. Kurzfristig könnte es für die Mobilitätswende helfen, wenn die Politik in Sachen Ausbau des Radwegnetzes nicht "vom Gas" geht und wie das in Dänemark oder den Niederlanden der Fall ist, auch Umland-Pendler mit Radschnellwegen aufs Bike bringt.

Denn nachdem die erste Welle der Pandemie überstanden war, nahmen natürlich auch wieder die Aktionsradien zu - entsprechend weniger war dann das Fahrrad oder die eigenen Füße, aber häufiger das Auto das "virensichere" Verkehrsmittel der Wahl.

Wer individuell unterwegs sein will, aber dennoch im ÖPNV-System, für den könnten die jetzt häufiger in Kooperation mit ÖPNV-Unternehmen angebotenen On-Demand-Shuttles eine Lösung sein.

Auch die Sharing-Angebote mit E-Tretroller, E-Motorrollern oder E-Bikes und E-Cargobikes könnten die Leute davon abhalten, wieder vermehrt ins Auto zu steigen, wenn man sie auf das Umland ausdehnt. Das zeigen auch erste Auswertungen nach einem Jahr "E-Tretroller". 

Oder eben die noch verstärkt in der Pandemie "wie warme Semmeln" verkauften privaten Pedelecs, die nicht nur für Feiertagsaktivitäten in den Garagen und Kellern reserviert sein sollten, sondern die für die Alltagsmobilität taugen. Für Fernreisen sollten die Bahnangebot ausgebaut und verknüpft werden mit Vor-Ort-Mobilität per Mietwagen oder Mietrad. Auch die von der DB kaputtgesparten Nachtzugverbindungen gehören jetzt wieder auf die Agenda, das Beispiel Österreich zeigt wie das geht. Überhaupt: Hier hat die Regierung jüngst ein sogenanntes Klimaticket eingeführt: Mit dem 1,2,3-Ticket lassen sich für gut 1.000 Euro Busse und Bahnen im gesamten Land unbeschränkt nutzen - formal für 3 Euro am Tag.

Die deutsche Politik kann aus vielen "Best-Practice"-Beispielen im Ausland lernen und sie kreativ kombinieren. Vor allem aber muss sie schnell handeln. Lässt man die Entwicklung laufen, droht unweigerlich der Verkehrs- und dann auch Klimakollaps. Dann hätte das Pendel in der Pandemie auf ganz fatale Weise zurückgeschlagen.

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