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ATF-Forum in Wolfsburg: Geballte Kompetenz

Wenn sich die Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften und der Volkswagen-Konzern hinter eine Veranstaltung klemmen, entsteht daraus etwas Hochkarätiges mit Herz und Verstand.

In den Lounges der Vfl-Arena fanden am ersten Veranstaltungstag die Automotive Talks und Barcamp-Runden statt. | Foto: G. Soller
In den Lounges der Vfl-Arena fanden am ersten Veranstaltungstag die Automotive Talks und Barcamp-Runden statt. | Foto: G. Soller
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Gregor Soller

Seit einem Jahrzehnt findet das ATF-Forum in Wolfsburg jetzt statt, seit zwei Jahren mit spannenden Diskussionsrunden im kleinen Kreis. Die wurden dieses Mal in den Lounges des Vfl-Stadiums abgehalten. Mit viel Herzblut moderierte und organisierte die Schokolade liebende Prof. Dr. Antje Helpup das Programm und sorgte für das frische Hochschulflair der Veranstaltung. In insgesamt 27 Workshops wurden einige Zukunftsthemen durchaus kontrovers diskutiert.

Auf dem anschließenden kulturellen Abend gab sich dann auch wieder Volkswagens Ex-CEO Prof. Dr. Carl Hahn die Ehre, der es als „sein großes Geschenk“ empfindet, immer noch arbeiten zu können und zu dürfen – mit mittlerweile 92 Jahren mischt er noch rege am ATF-Forum mit und hat durchaus noch Ideen und Visionen für die Zukunft des Konzerns, den er einst – lange vor der Maueröffnung und den anderen Pkw-Konzernen nach China brachte, wo der Volkswagen-Konzern als Marktführer heute rund vier Millionen Fahrzeuge absetzt. 

Am nächsten Tag ging es im Congress-Park Wolfsburg so spannend und hochkarätig weiter wie es begann: Die erfrischende Eröffnungsrede hielt Jürgen Stackmann, der Markenvorstand Vertrieb, Marketing und After Sales bei Volkswagen Pkw. Er steht jetzt vor der Herkulesaufgabe, den seit 60 Jahren nur marginal geänderten Vertrieb an die neue Zeit anzupassen und räumt ein, dass man wieder näher an den Kunden heran muss, der durch Vertrieb, Handel und zuletzt auch die Digitalisierung eher weiter von den Ingenieuren und Werkern am Mittellandkanal weggerückt wurde. Die vorhandenen Strukturen hätte man sich über die Jahrzehnte angeeignet und sie hätten toll funktioniert, doch die „menschliche Schnittstelle sei nicht zu unterschätzen“ und deshalb solle der VW-Konzern künftig wieder viel näher an den Kunden heranrücken als das bisher der Fall war: „Das Retailing wird sich ändern, weil der Kunde es so will“, konstatiert Stackmann.

Außerdem bedinge die E-Mobilität neue Geschäftsmodelle, denn Elektrofahrzeuge „hätten dramatisch weniger Servicewert, gleichzeitig werde ihre Stückzahl aber dramatisch zunehmen.“  Aber man „robbe sich da ran“, auch wenn sicher einige der künftigen Geschäftsmodelle aktuell noch nicht klar auf der Hand lägen. Nach dieser durchaus selbstkritischen Einleitung bläst er allerdings zur Attacke in Sachen E-Mobilität, die ab 2019 mit dem I.D. starten wird und dann zügig ausgerollt werden soll, denn: Hier sei VW entgegen der sonstigen noch früh dran und könne allein aufgrund der möglichen Stückzahlen schnell zum bedeutenden Player und Mitgestalter des Themas werden. Und möchte beim I.D. auch die Ausstattungsvielfalt drastisch reduzieren, denn „Einfachheit ist ein ganz hohes Wirtschaftsgut – aber VW liebt nun mal die Komplexität“, erklärt Stackmann wieder selbstkritisch. Man darf gespannt ein, inwiefern es der Perfektionismus der Niedersachsen zulässt, diese selbstverordnete Vereinfachung dann auch durchzuhalten und auf den übrigen Konzern zu übertragen.

Dazu gehört auch die interne Kommunikation, wie man Rande des Forums erfuhr: So müssten bei der Serviceannahme Daten bis zu viermal eingegeben werden und die Händlerverträge wuchsen von einst vier(!) auf heute fast 300 Seiten an.

Weitaus theoretischer und luftiger präsentierte sich der anschließende Vortrag von Dr. Eike Wenzel, dem Gründer des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung, der die Megatrends der Zukunft in 15 Hauptthemen unterteilte, von denen einige ohnehin auf einen zukämen, während man sich meist fünf bis sechs andere kritisch ansehen müsste. Und: Nicht alle Trends halten wirklich langfristig – manche endeten bereits nach zwei bis fünf Jahren wieder. Eine von Wenzels wichtigsten Botschaften war, dass die Urbanisierung gestoppt sei und vielerorts die Kleinstädte und ländlichen Strukturen mit der „Urbanisierung“ und den Trends der Metropolen mitziehen würden – was er als Neo-urbane Lebensform bezeichnet. Ebenfalls spannend: Die disruptiven Bewegungen der Internetkonzerne, die bereits 2013 ankündigten die „Software-isierung der Welt beginnt.“ Und tatsächlich gibt es heute Netflix statt Kabelfernsehen oder Facebook statt Zeitungen.

Ein weiteres Thema ist der Umbau der Cities: „Innenstädte und Autos – das wird keine Liebesbeziehung mehr“, wie Wenzel an Beispielen von Kopenhagen oder Portland zeigt: „Man muss sich das mal vorstellen – sogar die Amerikaner fahren Fahrrad.“ Tatsächlich stieg der Radverkehr seit dem Umbau Portlands dort um das Siebenfache an. Würde man nur die USA konsequent Richtung Stauvermeidung umbauen, könnte man dort ab 2030 bis zu einer Trilliarde Dollar sparen, wie die Stanford University errechnet hat. Sie kam auch zu dem Ergebnis, dass bei einem Abbau des Individualverkehrs im heutigen Ausmaß bis zu 70 Prozent der Fahrzeuge eingespart werden könnten. Markige Zahlen, die Wenzel da an die Wand warf.

Jürgen Reers, Managing Director bei Accenture legte in seinem Vortrag dann nochmal mit einem 70-Prozenter nach: Ride Hailing könne bis zu 70 Prozent Kosten sparen und im Extremfall kann man mittlerweile bis zu 4,5 Jahre im Stau stehen. Die Chance der Autohersteller sieht er im Bestand: Einige Marken hätten bis zu 100 Millionen Autos bei den Kunden, mit denen sie potenziell Geschäfte machen könnten.

Rainer Schneider und Christof Kleinheinz von NTT Data holten die Themen wieder etwas zurück ins jetzt und bezeichneten das Smartphone als „Schweizer Taschenmesser der Neuzeit.“ Und ähnlich wie beim Smartphone könnte es eines Tages beim Auto ebenso heißen: „Ja, fahren kann es auch.“ Glasklar die Ansage zum Service: Der beste Service sei der, den der Kunde gar nicht wahrnehme. Und in Sachen Digitalisierung fordern sie maximale Einfachheit: Da soll der Kunde im Idealfall nur „Ja“ oder „Nein“ sagen müssen. Beispiel: Ihr Auto muss in 3000 Kilometern zum Service. Nach jetziger Fahrleistung könnte man dafür in zwei Wochen einen Termin bei ihrer Werkstatt buchen. Möchten Sie diesen wahrnehmen?  Denn: Die Menschen würden sich immer mehr ihre eigenen digitalen Ökosysteme schaffen.

Den Vormittag schloss Andreas Sujata von Street Scooter mit seiner konkreten Projektumsetzung der elektrischen Verteilerfahrzeuge ab.  Wichtig waren ihm dabei zwei Punkte: Die Denke vom Kunden zum Produkt und nicht umgekehrt – also die Post schrieb einen Forderungskatalog und nach dem fertigte Streetscooter dann die Lastenräder und E-Fahrzeuge. Und: So ein neues Konzept einfach mal umzusetzen – einfach um zu zeigen dass es geht, selbst wenn dabei noch kleinere Fehler unterliefen – aus denen man dann lernen könne. Optional konnte man anschließend noch eine Business-Meditation von Dirk Zimmer mitmachen, an der übrigens auch Carl Hahn teilnahm. Denn, so erklärt VW Financial-Services-Mann Zimmer: „30 Prozent unserer Energie werden vom Gehirn verbraucht.“

Sehr inspirierend war auch der Beitrag von Gedächtnistrainer Markus Hoffmann mit dem Titel „Thinking out oft he box –neu denken in einer digitalisierten Welt.“, der damit sehr klar aufzeigte, in welch eingefahrenen Strukturen normalerweise gedacht wird und wie man hier eben „aus der Kiste“ herausblicken kann. Interessant auch der Beitrag Captive 4.0 – Vertriebsunterstützung durch Finanzdienstleistungen im digitalen Zeitalter, in dem Dr. Christian Dahlheim von VW Financial Services ausführlich darlegte, welche Faktoren im Vertrieb künftig an Bedeutung gewinnen werden und wie man diese steuert.

Zwischen die Zeilen konnte man dagegen mit Marcus Scholz von Europcar hören, der erklärte, wie Sprache und Daten die Kundenorientierung in der Mietwagenbranche verändern. Und das kann mitunter auf sehr feine subtile Weise geschehen und dem Kunden das Mieten nochmals merklich erleichtern.

Den Abschluss bildete der Business Talk, in dem die Frage gestellt wurde, welche Geschäftsmodelle in der New mobility erfolgreich sein könnten. Dabei diskutierte ein sehr buntes Board. Dort hielt Olaf Lies, Niedersachsens Minister für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz die Politikfahne hoch, während Jianfeng Mu als Director Supply Chain Management bei Nio über die logistischen Herausforderungen seines weltweit agierenden Startups informierte. Thomas Peckruhn vertrat als Vizepräsident des Zentralverbandes des deutschen Kraftfahrzeuggewerbes Handel und Werkstatt, während Prof. Dr. Stephan Rammler als Transportation-Design-Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig wieder weiter in die Zukunft blicken konnte. Zumal er für starke Thesen bekannt ist. Das Besondere dabei: An alle vier konnten vorab Fragen gestellt werden, die dann in der Runde aufgegriffen und diskutiert wurden. Womit der Tag so bunt und anregend endete, wie er begann.

Was bedeutet das?

Noch immer ist das ATF-Forum stark regional bestückt und speist sich sehr stark aus der Ostfälischen Hochschule und dem Volkswagen-Konzern. Und trotzdem ist es den Veranstaltern mit viel Herzblut gelungen, daraus eine sehr hochwertige Veranstaltung zu machen, auf der sich keiner ein Blatt vor den Mund nimmt und auch mit selbstkritischen Äußerungen nicht gespart wird. Genau das macht das ATF-Forum so wertvoll.

 

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