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Agora Verkehrswende: Erfolgreiche Städte bauen Auto-Vorrechte ab

Ein Kompendium zu erfolgreichen Verkehrswende-Städten liefert Kommunen konkrete Vorlagen. Dabei wird klar: Die Förderung von Alternativen zum Pkw reicht nicht. Es braucht den Abbau überholter Auto-Vorrechte. Und: Die Politik sollte Städten mehr Freiraum zur Gestaltung lassen.

Zum Beispiel Böblingen: Wie die Kleinstadt die Verkehrswende im Zentrum hinbekam, verfolgte einem systematischen Mix aus verschiedenen Maßnahmen. | Grafik: Agora
Zum Beispiel Böblingen: Wie die Kleinstadt die Verkehrswende im Zentrum hinbekam, verfolgte einem systematischen Mix aus verschiedenen Maßnahmen. | Grafik: Agora
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Johannes Reichel

Aachen und Amsterdam, Böblingen und Barcelona: Für den Berliner Thinktank Agora Verkehrswende gibt es mittlerweile viele Beispiele für Städte, die den Verkehr attraktiver und klimagerechter gestalten. Die zahlreichen Erkenntnisse flossen nun auch ein in das Faktenblatt „Mut zur lebenswerten Stadt“, dass mit Infografiken weiteren Städten und Gemeinden in Deutschland Anregungen für den Dialog und die Entscheidungen vor Ort geben will. Deutlich wird dabei vor allem, dass es nicht ausreicht, die Alternativen zum privaten Auto wie Bus, Bahn, Fahrrad und Fußverkehr zu fördern.

„Wer lebenswerte und klimagerechte Städte gestalten möchte, muss auch bereit sein, die über Jahrzehnte gewachsenen Vorteile und Vorrechte des Autoverkehrs abzubauen“, erklärt Wiebke Zimmer, stellvertretende Direktorin von Agora Verkehrswende.

Es lohne sich, den Menschen als Maßstab der Verkehrspolitik zu nehmen, denn eine solche Politik führe zu mehr Lebensqualität, mehr Sicherheit und mehr Teilhabe für alle. Das Ergebnis überzeuge dann meist auch jene, die anfangs noch skeptisch waren, und wird bei Wahlen honoriert, so die Überzeugung der Agora-Vize-Chefin. 

Push & Pull: Zusammenspiel von Anreiz und Nachdruck

Aachen wird dabei als jüngstes Vorbild angeführt weil die Stadt ihre Ausgaben für den Radverkehr nach langer Unterfinanzierung innerhalb von vier Jahren um das 17-Fache gesteigert hat: von 5,3 Euro pro Kopf im Jahr 2018 auf 88,7 Euro im Jahr 2022. Amsterdam habe innerhalb eines Jahres 1.100 Parkplätze für neue Zwecke umgewandelt, zum Beispiel für Gehwege, Spielflächen, Wohnungsneubau, Fahrradstellplätze oder Begrünungen. Barcelona konnte den Verkehr in einem Stadtquartier mit Hilfe von Pollern so beruhigen, dass der Autoverkehr um 40 Prozent zurückging, während der Radverkehr um 30 Prozent und der Fußverkehr um 10 Prozent zunahm, skizzieren die Autoren weiter. 

Zusammenspiel führt zum Erfolg

Mit den Beispielen und Illustrationen macht der Thinktank deutlich, wie erst das Zusammenspiel verschiedener Maßnahmen zum Erfolg führt. Die einen dienen dazu, neue Angebote zu fördern, zum Beispiel durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs oder die Einrichtung neuer Radwege und Begegnungszonen. Die anderen zielten darauf ab, das private Auto weniger attraktiv zu machen und öffentlichen Raum zurückzugewinnen, zum Beispiel durch Parkraummanagement, konsequentes Abschleppen von falsch geparkten Fahrzeugen und Rückbau von Kfz-Fahrspuren. Die Kombination dieser Ansätze, von Anreiz und Nachdruck, wird in Fachkreisen auch Englisch als Push-and-Pull-Politik bezeichnet.

Dresden: Anreize alleine reichen nicht

Berechnungen der Stadt Dresden machten dagegen deutlich, dass Anreiz-Maßnahmen allein nicht ausreichen würden. Werde neben dem Ausbau von ÖPNV, Fuß- und Radverkehr zusätzlich auch der Autoverkehr gefördert, nehme die Summe der Pkw-Kilometer weiter zu.

„Mit unserem Faktenblatt geben wir den Verantwortlichen in den Kommunen anschauliche Argumente für eine ganzheitliche Verkehrspolitik an die Hand. Ziel sollte es sein, die mit dem Pkw zurückgelegten Kilometer in Großstädten in den kommenden Jahrzehnten um gut 50 Prozent zu senken; bundesweit ist bis 2045 ein Rückgang um rund ein Drittel notwendig", konstatiert Wolfgang Aichinger, Projektleiter Städtische Mobilität bei Agora Verkehrswende.

 

Vorreiter Aachen: Wie die Wende in Kürze gelingt

Im Kontext seiner Jahreskonferenz zur Stadt als Ort der Verkehrswende #AgoraStadtgespräch 2022 fordert der Thinktank zudem, dass die Bundesregierung beim Klimaschutz im Verkehrssektor viel stärker auf die Gestaltungsmöglichkeiten von Städten und Gemeinden setzen sollte. Das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag, das Straßenverkehrsrecht zu reformieren und Kommunen mehr Entscheidungsfreiheit zu gewähren, sollte die Bundesregierung schnell einlösen. Die geltenden Rahmenbedingungen stammten aus einer Zeit, als die „Leichtigkeit“ des motorisierten Autoverkehrs noch als oberste Maxime angesehen wurde.

„Wir wundern uns sehr, dass die Bundesregierung das Engagement der Kommunen für Klimaschutz nicht stärker nutzt und bislang sogar ausbremst“, erkärte Christian Hochfeld, Direktor von Agora Verkehrswende.

Klimaschutz im Verkehrssektor sei eine riesige Baustelle. Die Ziele seien bereits im vergangenen Jahre verfehlt und in den kommenden Jahren werde es erst recht schwierig werden. Ein umfassendes Klimaschutzsofortprogramm, das diesen Namen verdient und die gesetzlichen Vorgaben erfüllt, lasse noch immer auf sich warten. Gleichzeitig signalisierten immer mehr Kommunen, dass sie bereit sind zu handeln und schneller vorankommen wollen.

"Bestes Beispiel ist die Tempo-30-Initiative, der sich mittlerweile über 270 Städte mit verschiedensten Regierungskoalitionen aus ganz Deutschland angeschlossen haben. Doch die Bundesregierung reagiert nicht auf Gesprächsangebote und lässt nicht erkennen, dass sie die versprochene Reform des Straßenverkehrsrechts voranbringt. Wenn das Bundesverkehrsministerium ein starkes Aufbruchsignal setzen wollte, würde es nicht nur die Rechtsreform mit Hochdruck angehen, sondern auch eine eigene Abteilung für städtische Mobilität und die Belange der Kommunen einrichten", kritisiert Hochfeld weiter.

Aachen als Vorreiter für nachhaltigere Verkehrspolitik

Auf der Konferenz tauschen sich Vertreterinnen und Vertreter aus Verkehrspolitik und Verkehrsverwaltung vor allem darüber aus, wie der Wandel zur lebenswerten und klimagerechten Stadt beschleunigt werden kann. Denn an vielen Stellen könne es zu Engpässen und Verzögerungen kommen, sei es bei Planung, Beteiligung, Genehmigung, Finanzierung oder beim Personal. Als Praxisbeispiel diente die Stadt Aachen, die sich trotz der an vielen Stellen widrigen Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren zu einem Vorreiter für nachhaltigere Verkehrspolitik entwickelt hat.

Tempo-30-Initiative mit weiteren Städten

Zusammen mit Augsburg, Freiburg, Hannover, Leipzig, Münster und Ulm habe Aachen etwa die Tempo-30-Initiative gestartet. Die Stadt habe auch ihre Investitionen in die Radinfrastruktur nach einem Radentscheid sehr stark erhöht und nehme mittlerweile einen Spitzenplatz in der Radverkehrsförderung ein. Beim öffentlichen Verkehr steht Aachen nach dem ÖV-Atlas von Agora Verkehrswende mit seiner Angebotsdichte an Platz sechs unter den deutschen Großstädten – hinter München, Frankfurt am Main, Berlin, Bonn und Dresden. Neue Bus- und Bahnlinien plant die Stadt so, dass diese an Strecken mit viel Pendelverkehr eine Alternative zum Auto bieten.

Ladeinfrastruktur: Fokus auf Unternehmen und Flotten

Ein weiterer Schwerpunkt der Konferenz war der Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge. Hier konzentriert sich Aachen auf Ladeinfrastruktur bei privaten Unternehmen und für betriebliche Flotten. Durch die Einbeziehung privater Flächen in der Planung werde es möglich, insgesamt weniger öffentlichen Raum für die Ladeinfrastruktur zu beanspruchen, so das Plädoyer des Thinktanks.

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