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VM-Test Mercedes-Benz EQS580 4Matic: Nicht ganz so glatt gelaufen

Johannes Reichel

Mit einer glatten Außenhaut und Aero-Look suggeriert das vollelektrische Flaggschiff aus Stuttgart die schwäbische Urtugend: Sparsamkeit. Und reklamiert auch formal mit einem cW-Wert von 0,20 einen Weltrekord, noch vor Teslas Model S. Doch ganz so weit her ist es mit Optik und Aerodynamik nicht, wie die ersten VM-Testeindrücke zeigen.

Der Bordcomputer des mit einer Armada an elektronischen Helferlein und digitalen Gadgets vom Dreifach-Display bis zu Massagesitzen ausstaffierte 2,6-Tonners ist nur mit sanftem Gasfuß unter 24 kWh/100 km zu drücken, eine Wochenendtour von München in die Berge mit moderat gefahrenem Autobahn-Landstraßen-Mix ergab mit Ladeverlusten 26 kWh/100 km. Auch über die VM-Testrunde taxierte der Verbrauch bei 26 kWh/100 km. Über die Gesamtstrecke der von uns gefahrenen 1.636 Kilometer wies der Bordcomputer dann 25,2 kWh/100 km aus, bei 69 km/h Durchschnittstempo.

Offiziell soll der Strom-Stern zwischen 18,2 und 21,3 kWh/100 km im WLTP kombiniert verbrauchen. Ein Tesla Model S ist in jedenfalls deutlich sparsamer und auf der Strecke deutlich unter 20 kWh/100 km zu bewegen gewesen. Man darf sich vom Aero-Appeal auch nicht täuschen lassen: Der mit dem Premium-Plus-Paket knapp 150.000 Euro teure EQS streckt sich nicht nur auf 5,21 Länge, sondern misst auch 1,51 Meter Scheitelhöhe (Model S 1,44 m), dafür mit Spiegeln im Vergleich mit der SUV- oder Crossover-Gattung relativ "schlanke" 2,12 Meter Breite (Model S 2,18 m). Die optimistisch als Spanne im Display angegebene Reichweite zwischen 450 und 680 Kilometer orientiert sich in der Praxis eher am unteren Ende. Das ist bei einem Brutto 120 kWh fassenden Monsterakku (108 kWh nutzbar) unter dem innen bis auf ein kleinen Absatz flachen Boden fast schon etwas enttäuschend. Offenbar kommt es neben der Aerodynamik eben doch auch auf die Effizienz der Motoren (385 kW/855 Nm) an Vorder- und Hinterachse, respektive deren Zusammenspiel mit der Batteriemanagementsoftware an.

 
Reichels Radl-Test: Ein Faltrad mit flachem Lenker passt rein, ein MTB am Stück wird schwieriger, weil das Frachtabteil sehr flach wird. | Foto: J. Reichel
Reichels Radl-Test: Ein Faltrad mit flachem Lenker passt rein, ein MTB am Stück wird schwieriger, weil das Frachtabteil sehr flach wird. | Foto: J. Reichel
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Interieur: Praktisch mit Einschränkungen

Auf mehr Fläche und mehr Höhe bietet der EQS allerdings keinesfalls mehr Raum. Im Frachabteil, das sich zwar sehr lang streckt, bringt man ein Faltrad mit Ultrakompaktlenker passabel unter, ein Mountainbike mit breitem Lenker würde aber schwieriger. Es fehlt an Ladebreite und durch die schnell und lang abfallende Riesen-Heckklappe auch an Ladehöhe bis ans Heck, wie sie etwa das Model S bietet. Zudem schränkt die abfallende Dachlinie die Kopffreiheit ein: Immer sollte man die "Rübe" einziehen, beim Einstieg in den Fond - und ab 1,90 Meter wird es auch ungemütlich überm Scheitel. Die Beinfreiheit ist ordentlich, aber jetzt auch nicht feudal, wenn vorne auch ein großgewachsener Passagier sitzt.

Im Vergleich zum Model S fährt sich der EQS auch deutlich weniger agil und sportlich, selbst im S-Modus walgt und wankt der schwere Wagen ordentlich, die Lenkung mag es eher komfortabel "benzig" als scharf. Kurvige und enge Landstraßen sind so weniger sein Revier, mehr die straighte Autobahnfahrt im Cruise-Modus, wobei sich der schwere Wagen bei höherem Tempo ebenfalls eher schwammig anfühlt, zum Nachwippen bei Querfugen und Aufschwimmen neigt und weniger verlässlich und "wie ein Brett" liegt - schon gar nicht wie ein Model S. Geradeaus imponiert dafür die Beschleunigung, formal 4,3 s auf 100 km/h, die der Benz auf den Asphalt tackert - für den, der's mag, ist es das Höchste ... Untermalen kann man sich das lassen von drei verschiedenen Soundkulissen, die leider alle etwas "prollig" geraten sind und klanglich doch in der V8-inspirierten Verbrennerwelt verhaften bleiben.

Man kann's aber auch lassen mit dem Fahrsound, lieber der klanglichen Opulenz der Burmester-Anlage huldigen und das sanfte Gleiten des Schwaben genießen, wobei das Komfortniveau und die Federungsgüte nicht an das in jeder Lage souveräne und geschmeidige Niveau "konventionelle" S-Klasse heranreicht. Der schwere Akku fordert hier Tribut und Kompromisse. Top für so ein Schiff ist dann aber der Wendekreis, dank der Hinterachslenkung, die standardmäßig mit 4 Grad, optional freischaltbar mit zehn Grad mitlenkt. Das ist gewöhnungsbedürftig und man sollte nicht zu früh einschlagen. Wendig ist der XXL-Sternenkreuzer damit aber allemal.

Materialmängel im Detail

Dass diverse Verkleidungen, etwa im Dachhimmel oder in der Mittelkonsole knarzen und sich auch bei leichterem Nackeln aus der Verankerung lösen, erwartet man auch nicht unbedingt von einer 150.000-Euro-Oberklasse-Limousine. Überrascht war der Kollege, dass sich nach einer unbedachten Geste das Schiebedach öffnete - und er sich arg mühte, es wieder zu schließen. Und der Beifahrer frustriert, weil auf dem Extra-Screen während der Fahrt kein Sudoko zu aktivieren war. Begründung: Das könnte ja den Fahrer ablenken. Ablenkend empfanden wir eher die vielen Bildschirme mit ihrem Geflimmer, sodass man erstmal die Helligkeit ganz runterregelt. In jedem Fall haben die Schwaben alles an optischer Opulenz in den EQS gepackt, was zur Verfügung stand - und eine Art Gegenmodell zum Tesla geschaffen: Schwäbischer Barockwinkel versus kalifornische Coolness. Manches im Benz wirkt arg bemüht und dick aufgetragen, Staub- und Fingertapperwischen will man bei den vielen Hochglanzflächen und Winkeln auch nicht permanent. Man sehnt sich fast nach der unaufdringlichen Reduziertheit der Musk-Marke ...

Assistenz auf hohem Niveau

Nichts anbrennen lassen die Schwaben in ihrer Kernkompetenz Fahrerassistenz: Spur- und Abstandstempomat regeln feinfühlig und klug, der Stauassistent ist im Stop-and-Go in der Stadt eine echte Stütze. Warum man aber beim Abbiegen gleich dreifach die Richtung serviert bekommt, im überladenen Head-up-Display, im Navi im Zentraldisplay und per Kamera auf dem großen Screen, inklusive greller blauer Pfeile, erschließt sich nicht wirklich und erscheint als "technical overkill". Man könnte ja auch einfach zur Windschutzscheibe rausschauen. Apropos: Der Blick reißt bei der stark abfallenden Front jäh ab, die Übersicht ist daher so lala. Einen Frunk sucht man unter der langen Haube übrigens vergebens: Sie lässt sich gar nicht öffnen.

Bei der Ladetechnik bewegt man sich dann "state of the art" und die riesigen Speicher waren von 40 auf 100 Prozent in 50 Minuten befüllt, Zeit für eine Mahlzeit an der gut mit Infrastruktur versorgten EnBW-Station in Unterhaching bei München. Die Ladekurve am EnBW-Hyper-Charger fällt dabei pünktlich ab 80 Prozent akkuschonend ab, maximal erreichten wir Werte um die 111 kW Leistung und im Schnitt ging es mit 77 kW zur Sache. An die formal 200 kW Maximalleistung reichte der EQS an der 350-kW-fähigen Säule aber nicht heran. Unterm Strich also Licht und Schatten bei der ersten echten deutschen Antwort auf den Tesla Model S. Bei allen Geschmacksfragen bleibt ganz objektiv aber vor allem bei einem Punkt Luft nach oben, respektive unten: Der Effizienz im Benz.

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