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VM-Foto-Report: Verkehrswende ist möglich - und Niederlande kein Neandertal!

Johannes Reichel

Bei einem Urlaubstrip per Bike konnten wir buchstäblich erfahren, was perfekte Radinfrastruktur bedeutet - und wie weit Deutschland von den benachbarten Niederlanden trotz der räumlichen Nähe entfernt ist. Kurz: Es sind Lichtjahre. Und die Holländer legen immer weiter nach. Der neueste Trend sind geräumige, komfortable und sichere innerstädtische Radparkhäuser, die Platz schaffen für Fußgänger und Flaniermeilen. Oberirdisch parkende Autos sieht man in den City-Zentren von Nimwegen, Utrecht, Amsterdam, Alkmaar oder Den Haag so gut wie gar nicht mehr.

Und wenn, dann wird ihre "Besetzung des öffentlichen Raums" scharf überwacht, etwa mit den (natürlich elektrisch angetriebenen) Scan-Autos der "Automated Parking Control", die unzählige Parkwächter ersetzt und aktuell 150.000 Parkplätze im Blick hat. Das Knöllchen kommt dann auch automatisch. Parken ist ohnehin sehr teuer, auch Anwohnerparkausweise in feineren Vierteln wie Oud-Zuid nahe dem Museumsquartier kosten über 500 Euro jährlich. Kein Wunder, dass das Sharing blüht, und weil der Platz so teuer ist, eben auch mit zahlreichen Elektrokleinstfahrzeugen wie dem Biro von Estrima, dem Rocks-e von Opel oder dem. Die passen dann auch mal quer in eine der Parklücken. Und sogar Damen im Ausgehkostüm sind sich nicht zu fein, diese cleveren E-Mobile zu nutzen, weil sie einen trocken, bequem und schnell an Ort uns Stelle bringen und dann einfach abgestellt werden können. Wenn man in den "besseren Vierteln" Autos sieht, dann sind sie viel häufiger elektrisch - und doch auch höherklassig, sprich durchaus auch ein Statussymbol wie bei uns. Generell ist elektrisch fahren hier längst Standard, Ladesäulen gibt es an jeder Ecke. Dennoch wird einfach viel weniger Auto gefahren in den Städten, Staus haben wir eigentlich nie erlebt.

 
Holland macht "Autofrei": Innenstädte wie in Utrecht sind längst vom "Auto befreit" - und das obwohl niederländische Kommunen in den 60er-Jahren auch auf "bestem Weg" zur "autogerechten Stadt" waren, die damals im Trend lag. Sie haben rechtzeitig umgesteuert. | Foto: J. Reichel
Holland macht "Autofrei": Innenstädte wie in Utrecht sind längst vom "Auto befreit" - und das obwohl niederländische Kommunen in den 60er-Jahren auch auf "bestem Weg" zur "autogerechten Stadt" waren, die damals im Trend lag. Sie haben rechtzeitig umgesteuert. | Foto: J. Reichel
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Hinzu kommt eine Infrastruktur, die klare Prioritäten setzt: ÖPNV und Rad haben Vorfahrt, als Fußgänger fühlt man sich dagegen schon mal im Weg - und muss sich hüten, nicht ständig in irgendeiner Radspur zu stehen. Induktiv geregelte Ampeln schalten auf Grün, sobald ein Fahrradfahrer sich nähert. Und falls doch mal Rot ist, zeigt die Ampel dem Biker, wie lange er sich noch gedulden muss. Meist nicht lange. Wenn man nicht sogar "Rot" ignorieren darf, wie an T-Kreuzungen nach Rechts. Kreuzungsquerungen passieren im Zweifel mindestens so schnell, wie mit dem Auto, oft gibt es Vorrang-Routen für Bikes oder prioritäre Ampelschaltungen. Alles keine Rocket Science, sondern verfügbare und kluge Verkehrstechnologie, die man anwenden kann, wenn nur der politische Wille da ist.

Verkehrssicherheit als Auslöser fürs Umdenken

Und den gibt es eben in den Niederlanden seit den späten 70er-Jahren, als eine breite Bewegung "gegen den Kindermord", sprich die hohen Todeszahlen im Verkehr aufbegehrte und die Voraussetzung für die Fahrradverkehrswende schuf, deren Resultate man heute als Teutone nur respektvoll bestaunen kann. Nur dass sich heute das "Vision Zero"-Ziel (sprich Null Verkehrstote), dem sich Holland schon sehr weit angenähert hat, vereint mit den Aspekten des Klimaschutzes, für den mehr Radverkehr, überhaupt mehr aktive Mobilität ein Schlüsselelement ist. In den Niederlanden ist Radfahren quer durch alle Schichten und von Groß bis Klein wie selbstverständlich zum Alltag gehört - und zwar bei jedem Wetter. Von den zahlreichen Schauern auf unserem Weg vom per Flixbus&Bike preiswert und umweltfreundlich erreichten Duisburg (die Bahn hatte mal wieder keine Radplätze frei) über Nimwegen, Utrecht nach Amsterdam und Alkmaar, weiter die Küste entlang bis Den Haag und zurück dann nach Antwerpen in Belgien, zeigten sich die Holländer völlig unbeeindruckt. Geradelt wird immer, weil's meist das schnellste ist.

Auffallend dabei: Niemand außer Rentnern, Kindern, E-Bikern und Rennradler trägt hier einen Helm, so sicher kann man sich auf den bestens präparierten und meist sicher und separat geführten Radwegen fühlen. 35.000 Kilometer Radwege sind getrennt geführt, ein Viertel des gesamten Straßennetzes von 140.000 Kilometern, bestätigt Wikipedia den subjektiven Eindruck. "Entflechtung der Verkehrsträger" nennt sich die hinterlegte Strategie der Niederländer. Ab und zu überholt mal ein Mofa, oft elektrisch, weil die teils auch radwegbenutzungspflichtig sind. Genial ist das Knotenpunktsystem, ein übers ganze Land erstreckte Radwegenetz: Wer sich seine Knooppunte aus der Netzkarte sucht, fährt nur mit einem Zettelchen "bewaffnet" durch die Lande - und ganz ohne Smartphone. Die Halterung kann man dafür super verwenden: Digital analog!

Sobald man die deutsche Grenze quert, wird's breit und bequem

Besonders krass fällt uns der Kontrast beim Queren der Grenze hinter Xanten in NRW auf: Richtung Nimwegen wird die zuvor eher raue und schmale Radtrasse sofort breit und mehrspurig, geführt getrennt hinter Bäumen und nicht als "Anhängsel" zum Autoverkehr, sondern als zentrale Achse zur Fortbewegung. Wobei chaotisches Pendeln auf dem Radweg auch nicht wohlgelitten ist. Eher pflegt man einen disziplinierten und flotten Fahrstil, was dafür sorgt, dass man in allen Städten, die wir besuchten, im Zweifel mit dem Rad immer schneller ankommt als mit dem Auto.

Gibt es am Land mal keinen getrennten Radweg, sorgen deutlich gestrichelte Linien, oft auch zusätzlich rote Färbung oder meist sogar witterungsresistenter rotsteinige Ausführung des Radwegs für "optische Vorfahrt" für Rader, beziehungsweise für "Priorisierung", wer hier der "King of the Road" ist, die Fietser - entsprechend respektvoll verhalten sich Autofahrende, etwa beim Überholen. Kurz: Ein Traum und man fühlt sich auch Überland nie unsicher.

Unser erster Radstrafzettel: Recht haben Sie!

Eine lehrreiche Erfahrung war auch unser erster "Radstrafzettel", eher eine kostenfreie Ermahnung, völlig zurecht: Wer hier nach "Münchner Art" chaotisch einen Laternenpfosten zum Radabstellen nutzt, weil man es halt nicht anders kennt, respektive nur leicht außerhalb der in Amsterdam immer weniger vorhandenen oberirdischen Radabstellern steht, der bekommt es schnell mit den Ordnungskräften zu tun. Mit einem freundlichen Hinweis und Aufkleber an der Lenkerstange, doch das wirklich nahe und tolle Radparkhaus an der beliebten Leidseplein zu nutzen. An einem Donnerstagabend standen auch schon zwei Transporter mit Gitterbox bereit, um die ohnehin kaum noch vorhandenen Langzeitparker zu entfernen. Auch vor der Amsterdamer Centraal Station, früher ein legendärer Drahteselverhau, wurde radikal aufgeräumt. Radeln ist hier tatsächlich verboten, Abstellen sowieso, dafür gibt es mehrere gut zugängliche Radparkhäuser. Und oben regieren die Fußgänger auf der Bahnhofsplatte, wie sonst selten in der Stadt. Auch so eine Erkenntnis: Ohne striktes Managment des öffentlichen Raums und entsprechende Kontrolle mit direkter Sanktionierung funktioniert es nicht. Auch hier fehlt's in Deutschland noch weit.

Rad-Schiene-System: Bike-Parkhäuser an Bahnhöfen

Highlight unserer Visite war natürlich das weltgrößte (aber bei weitem nicht einzige, es gibt etliche davon!) Radparkhaus in Utrecht, wo man sich per Karte registriert und sich dann darauf verlassen kann, dass das Rad sicher und trocken bis zum nächsten Tag steht, mit 12.500 anderen. Man steigt aus dem Radparkhaus auch "direkt in den Hauptbahnhof", der größte und nebenbei nebst Ladeplätzen für E-Busse tiptop organisierte Verkehrsknoten der Niederlande ein. Dass man Rad und Schiene so perfekt verknüpft, ist keine Liebhaberei, sondern der Tatsache geschuldet, dass jede zweite Bahnreise in NL mit dem Rad beginnt. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts hat man gezielt eine Rad-Schiene-Infrastruktur geschaffen, es entstanden 400 Radabstellanlagen an Bahnhöfen mit 450.000 Plätzen, nur um mal die Dimension klar zu machen. Uns er kleiner Nachbar, oft belächelt, in Sachen Verkehrswende heißt es hier: "Think Big".

Unser Fazit: Niederlande sind kein Neandertal

Umso ernüchternder ist natürlich die Landung in der Münchner Realität, wobei die bayerische Landeshauptsstadt noch zu den besseren Radl-Großstädten in Deutschland zählt. Dennoch: Die Wege sind schmal, rumpelig, von Wurzeln durchzogen und - sehr auffällig - anders als in den Niederlanden häufig von Glasscherben übersät. Man fährt gleich viel vorsichtiger und es geht deutlich weniger flüssig voran. Zumal man die Priorisierung des Autoverkehrs an vielen Ampeln sofort wieder zu spüren bekommt. Etwa auch an der permanenten Duldung halb auf den Radweg ragender Fahrzeugschnauzen oder von ohnehin falsch parkenden Automobilen. Überhaupt: Links und recht parkende Autos, durch die ganze Stadt, was ein Wahnsinn, das ist man gar nicht mehr gewohnt! Falschparken ist hier ein Kavaliersdelikt, das in den Niederlanden scharf und schnell sanktioniert wird. Die "autogerechte Stadt", in München (und sonstwo in D) ist sie noch immer und trotz aller Bemühungen der grün-roten Stadtregierung der jüngsten Zeit (Stichwort "Radentscheid München") blecherne Realität. Und die große Frage ist, ob es gelingt, den Weg der Niederlande, der in Sachen Klimaschutz eigentlich alternativlos ist, in der wenigen Zeit, die nur noch bleibt, hinzubekommen. Hätten wir nur auch in den späten 70er-Jahren angefangen. Aber wie heißt es so schön: Hätte hätte, Fahrradkette.

Der Exkurs ins Nachbarland zeigt immerhin: Eine bessere, nachhaltigere und gesündere Mobilität ist nicht nur nötig, sie ist auch möglich. Und sie führt uns nicht, wie von vielen konservativen oder liberalen Politikern oft behauptet, zurück ins Neandertal.

Die Niederländer sitzen (unserem empirischen Eindruck nach) nicht auf den Bäumen oder in Höhlen, sondern sind eine hochvernetzte und clever organisierte High-Tech-Nation mit hochattraktiven und äußerst lebenswert gestalteten Städten für Menschen. Es ist kein Rückschritt, statt mit dem SUV im Stau zu stehen, mit dem Rad die Isar entlangzupfeilen. Sondern "clevere Mobilität". sie führt in die Zukunft der urbanen Mobilität. Und die sollte in den Städten primär "muskelbetrieben" oder leicht elektrisch sein.

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